Frostherz
mich neben die Mülltonne, als gehöre ich zu ihr, als beschütze ich sie. Oder sie mich. Er kommt näher und näher, der Herr Koth. Nun erkennt er mich wohl, der Herr Koth. Er sagt meinen Namen, der Herr Koth. Ganz ruhig, wie wenn man ein kleines Tier anlockt. Ich starre ihn an. Er bleibt stehen. »Kann ich dir helfen?«, fragt er und ich habe das Gefühl, mein Kopf zerplatzt. Ich hebe die Arme, ich straffe das Seil, er folgt meinem Tun mit dem Blick und dann lächelt er mich an. Ich lasse das gespannte Seil niedersausen auf seinen Hals. Sein Blick verdüstert sich, Blut tropft von seiner Wange. Seine Hände greifen nach dem Hals, dem Seil, meinen Fingern. Ich ziehe. FESTER, sagt es.
11. Kapitel
Im Haus war es dunkel und still. Seine Augen schmerzten, als er von dem Heft aufsah. Es war fast drei, die Mitte der Nacht, schwarz und tief. Von allem war er weit entfernt. Von ihr. Ihrem Kuss. Er hatte in der Haut dieses Jungen gesteckt, der seine Verzweiflung vor so vielen Jahren in ein Büchlein gepackt hatte und die nun lebendig durch sein Zimmer waberte. Und er wusste, dass diese Worte etwas mit ihm zu tun hatten – direkt mit ihm. Beim Lesen der Zeilen hatte eine Glocke in ihm geläutet. Eine Warnglocke, eine schneidende Sirene, die schmerzte und vor der er sich die Ohren zuhielt und die dennoch alles durchdrang. Er wusste, wen er nach dem Namen fragen musste, und er wusste, das Gespräch wäre grauenhafter als das, welches Anne mit ihrem Vater erwartete. Was er nicht wusste, war, wie er ihr in die Augen schauen sollte – so lange, bis er sicher sein konnte, dass alles nur ein Albtraum, eine Schimäre der Dunkelheit war. Es konnte einfach nicht wahr sein, es durfte nicht!
Zum Frühstück erschien sie mit dem Anstecker. Sie ging gerade und wich seinem Blick nicht aus. Sie bemerkte sofort, wie sich sein Blick hineinbohrte in die spitzkantigen Buchstaben. Sie setzte sich nach einem mehr geflüsterten »Guten Morgen« auf ihren Platz und aß das Müsli. Ihr Hals fühlte sich rau an, ihre Lippen spröde, als habe sie seit Tagen nichts getrunken.
Sie sah, wie seine Hand mit dem Kaffeelöffel darin zitterte. Wie seine Zähne hinter den geschlossenen Lippen gegeneinander mahlten, als beiße er auf spitzen Steinen herum. Sie wollte, dass er etwas sagte.
Tatsächlich gab er sich einen Ruck.
»Ich werde dich fahren, heute Morgen«, sagte er leise. »Und heute Mittag hole ich dich wieder ab und bringe dich heim. Ich kann mir Arbeit mit nach Hause nehmen.«
Sie begann, furchtbar zu husten, eine Haferflocke war in die falsche Kehle geraten. Sie spürte, wie ihr Kopf rot anlief, Schweiß trat auf ihre Stirn.
»Nein«, sagte sie, nachdem der Hustenreiz aufgehört hatte. »Ich nehme den Bus, danke.«
»Anne…«, hob er an.
»Ja, was… Anne…?«, fragte sie zurück. Sie hatte nicht gewusst, dass sie so aggressiv klingen konnte.
Sein Blick war so verwundert, als habe sie ihm einen Schwerthieb verpasst.
»Willst du vielleicht Fußfesseln für mich besorgen, damit ich nicht fortlaufen kann? Damit du immer alles unter Kontrolle haben kannst? Willst du das?«
»Nein, ich will dein Bestes, ich will nur auf dich aufpassen, du bist mein Kind, es ist meine Pflicht, auf dich aufzupassen, dass musst du doch verstehen!« Seine Stimme war immer lauter geworden, am Ende schrie er fast.
Sie stand auf. Hob die beinahe leere Müslischüssel vom Tisch, hielt sie hoch über ihren Kopf und dann ließ sie einfach los. Es tat so gut loszulassen. Scherben, Milch, Körner spritzten durch die ganze Küche und beide sahen einen Augenblick gleichermaßen verwundert auf die Sauerei.
»Was ist denn los?«, fand Johann als Erster die Sprache wieder. »Du bist ja völlig außer dir. Beruhige dich mal!«
Als seien dies die Zauberworte, mit der man die magische Tür öffnen konnte, hinter der sich all die verbotenen Worte und Sätze verborgen hatten, vermochte sie endlich zu sprechen.
»Ich werde mich nicht beruhigen«, sagte sie. »Ich will endlich alles wissen von dir. Du musst mir Rede und Antwort stehen, ich habe ein Recht darauf. Ich will wissen, wer Andreas war, was mit ihm geschehen ist, warum nie irgendjemand über ihn gesprochen hat, warum dieses Zimmer abgeschlossen war! Ich will endlich wissen, warum du mich einsperrst, bewachst, mir die Luft zum Atmen nimmst – denn wenn du das weiterhin tust, dann werde ich ersticken. Ich werde das nicht überleben, da kannst du sicher sein! Oder ich werde gehen und nie wiederkommen und du wirst
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