Frostherz
niemals erfahren, was aus mir werden wird, ob ich lebe oder sterbe. Ich will, dass du mit mir sprichst!«
Er war immer kleiner geworden, immer blasser, gleich würde er sich in Luft auflösen, er hielt sich den Kopf und wiegte den Körper vor und zurück. Starr betrachtete sie ihn einen Moment.
»Ich weiß, dass Andreas dein Bruder war, dass er sich umgebracht hat – ich weiß das, Hedi hat es mir erzählt und du kannst dir gar nicht vorstellen, wie dankbar ich ihr bin. Endlich macht alles einen Sinn – warum Großmutter so verschlossen war, immer so traurig, warum du… warum du… und dann noch Mama…«
Tränen schossen ihr in die Augen, liefen über ihre Wangen, tropften auf die Müslireste am Boden.
Plötzlich stand er auf, er umklammerte sie, presste sie an sich, wollte sie nicht loslassen und sie ergab sich, erwiderte seine Umarmung, das erste Mal seit Jahren, seit der Beerdigung ihrer Mutter. Sie weinten gemeinsam, lange, sie schniefend, er lautlos, als würde der Großteil seiner Tränen in seinem Innern fließen.
»Papa«, sagte sie leise. »Warum habt ihr mir nie etwas gesagt?« Er schüttelte den Kopf.
»Ich meine, natürlich ist es schlimm, einen Bruder zu verlieren, so wie es schlimm ist, eine Mutter zu verlieren. Aber warum habt ihr es verheimlicht? Weil er sich selbst umgebracht hat?«
Endlich ließ er sie los. Wie unter einer riesigen Last sank er auf den Küchenstuhl, die Beine weit von sich gestreckt, den Kopf tief auf der Brust. Er bewegte die Arme zu Sätzen, die er kaum artikulieren konnte.
»Meine Schuld…« , verstand sie schließlich. »Es war alles meine Schuld.«
Ihr war es egal. Sollten sie doch ihre roten, geschwollenen Augen sehen, sollte Rosen doch meckern, weil sie zu spät zum Unterricht kam. Nachdem sowohl sie als auch Johann sich beruhigt hatten, war es schon kurz nach acht gewesen. Sie hatte nichts dagegen gehabt, dass er sie zur Schule fuhr. Er versprach, sie am Nachmittag in Ruhe zu lassen. Alles wäre wie immer. Sie solle ihm ein bisschen Zeit geben, es sei zu viel gewesen in den letzten Wochen, er würde versuchen, ihr alles zu erklären. Nur nicht jetzt. Sie hatte akzeptiert. Mit ihrem Herzen war sie schon bei Cornelius. Sie versuchte, sich zu erinnern, wann er heute Schule hätte und wann sie sich sehen könnten. Und küssen. Sie erschauderte. Ob sie ihn so einfach wie gestern Abend würde küssen können? Dann kam ihr das nächtliche Foto in den Sinn. Nein, bleib ruhig, beschwor sie sich, das ist ein Fake. Er kann nicht einfach von mir zu ihr gegangen sein. Das geht doch nicht. Das hat er nicht getan.
Es war heiß heute, der erste Tag, der als Hochsommertag durchgehen konnte, obwohl sich am Horizont so etwas wie Gewitterwolken ballten. Seine rote Hose leuchtete durch die Menge der Schüler, selbst er hatte bei diesem Wetter das blaue Jackett abgelegt. Stattdessen trug er nur ein weißes Muscleshirt und dazu einen dunkelgrauen Hut, den er tief ins Gesicht gezogen hatte. Er rauchte und stierte in die Luft. Ihr Herz wollte losrennen, spurten, eilen, ihn umschlingen, aber sie ging ganz langsam. »Er hat schon einigen Mädchen das Herz gebrochen«, kamen ihr die Worte seines Vaters in den Sinn. Amis? Er bemerkte sie erst, als sie direkt vor ihm stand. Seine Mundwinkel hoben sich kaum. Er sah übernächtigt und müde aus. Ob er vielleicht doch… Sie nickte knapp, ihre Hände über dem Rucksack vor der Brust verschränkt. Das Lächeln kam ein wenig schief, leise sagte sie: »Hallo.« Er nickte.
»Wie geht’s?«, fragte sie schließlich. Mist, sie sollte ihn nicht fragen, wie es ihm ging. Sie sollte dafür sorgen, dass es ihm gut ging. Sie kam noch ein wenig näher, hatte aber den Eindruck, er wich zurück. Endlich sah er ihr in die Augen. Er hob eine Hand, berührte mit den Fingern ihre Wange.
»Hast du geweint?«, fragte er.
»Kleiner Zoff mit meinem Vater«, sagte sie.
»Gut«, antwortete er und lächelte ein wenig eindeutiger. »Ich muss leider los. Hab noch was zu erledigen. Für meine Mutter. Meine letzten beiden Kurse fallen heute aus.« Sie nickte. Als er schon ein paar Schritte gegangen war, rief sie ihm nach: »Sehen wir uns?«
»Na klar«, sagte er. »Ich ruf dich an.« Und dann war er fort.
Anne schaute ihm nach, auch als er schon lange nicht mehr zu sehen war. Das gab es doch gar nicht! Wie konnte er nur so tun, als sei sie eine entfernte Bekannte? Sie kam sich vor wie ausgespuckt, wie auf die Straße gekehrt.
Ami kreuzte ihr Blickfeld. Große
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