Frostherz
Löcher in ihren Jeans gaben den Blick auf viel Bein frei. Ihr kurzes, tief ausgeschnittenes Top in Neonlila musste jeden Lehrer den Unterricht vergessen lassen. Nutte, kam es Anne in den Sinn und sie schämte sich sofort dafür. Am liebsten hätte sie das Mädchen zur Rede gestellt. Doch ihre Beine gehorchten ihr nicht. Der Klang des Gongs zog sie ins Schulgebäude. Wie ein Zombie saß sie im Kunst-Unterricht. Anwesend und doch ganz weit fort.
Wie konnte er nur! Wie konnte er sie nur so behandeln? Er hasste sich dafür. Aber bevor er nicht die Wahrheit wusste, konnte er ihr nicht in die Augen schauen. Dabei hatte er das Hauptproblem noch gar nicht gelöst: Wollte er die Wahrheit wissen? Würde er sie verkraften? Und was würde er mit diesem Wissen anfangen? Er fuhr auf dem Monster schon die dritte Runde um das Krankenhaus. Nirgends sah er einen Parkplatz. Sicher hatte sie gerade Visite. Bestimmt hatte er sich verlesen. Genau – er sollte sowieso erst das ganze Tagebuch kennen, bevor er einen falschen Schluss zog. Er gab Gas, die Maschine heulte auf und er raste davon, die 30er-Zone völlig missachtend. Egal, er musste raus aus diesem Kaff, er konnte die Mauern, diese Enge nicht mehr ertragen. Doch schon an der nächsten Kreuzung hielt ihn ein Polizeifahrzeug an.
»Haben Sie’s eilig?«, fragte der Polizeibeamte süffisant. »Zeigen Sie mir mal Führerschein und Papiere.« Genervt öffnete Cornelius das Schloss, das er an seinem Tankrucksack angebracht hatte, und reichte das Gewünschte heraus. Nervös trippelte er mit den Fingern auf dem Rucksack. In dessen Kartenfach hatte er das Tagebuch versteckt. Er wollte es nicht in seinem Zimmer, er wollte es immer bei sich haben. Außerdem würde hier garantiert niemand danach suchen – denn Cornelius war sich ziemlich sicher, dass der Eindringling bei Anne das Buch wollte.
»Okay«, sagte der Polizist und gab ihm seine Papiere zurück. »Das macht 80 Euro und gibt einen Punkt. Sie sind 25 Kilometer zu schnell gefahren.«
Cornelius verzog angenervt das Gesicht. »So viel habe ich jetzt nicht bei mir«, sagte er und mit einem sehr zufriedenen Lächeln stellte ihm der Beamte einen Bußgeldbescheid aus. »Immerhin haben Sie sich drei fünfzig für die Zustellung des Bescheides gespart.«
Mit zusammengepressten Lippen nahm er den Schein an und verstaute ihn im Rucksack.
»Schönen Tag noch«, rief ihm der Polizist freundlich nach.
»Du mich auch«, erwiderte Cornelius leise.
Erst als er die Stadt hinter sich gelassen hatte, beruhigte er sich. Gelbe Rapsfelder säumten die Straße und zogen sich bis zu einem kleinen Wäldchen. Ohne lange zu überlegen, bog er in einen Feldweg ein und holperte über die unebene Piste. Staub legte sich auf seinen Helm, aber schließlich kam er bei dem Wäldchen an. Er parkte das Motorrad, stieg ab, und nachdem er den Helm abgenommen hatte, atmete er tief ein. Ruhe, nichts als Ruhe gab es hier. Er lehnte sich an eine Buche, beobachtete das Spiel der zartgrünen Blätter über seinem Kopf und sah in die Landschaft. Am Horizont erhob sich der Umriss einer Burgruine. Der eines buddhistischen Tempels wäre ihm sehr viel lieber gewesen. Er zog den dünnen, dreißig Jahre alten Lederband aus dem Rucksack und begann zu lesen.
Freitag, 11.06.
Und dann war alles wieder da. Meine Finger wurden kraftlos, das Seil fiel zu Boden und ich rannte, rannte, rannte, bis meine Lunge sich anfühlte, als würde sie von Giftgas zersetzt. Überall sah ich seine Augen. Spürte seine Hände, so wie damals. Ich war wieder zehn Jahre alt und lag in diesem fremden Bett. Allein. Ganz allein. Nur ich hatte immer ein Zimmer für mich allein. Alle anderen schliefen in Mehrbettzimmern. Ich hätte sagen müssen, dass ich auch in ein Mehrbettzimmer wollte. Ich traute mich nicht. Er sagte, ich sei der Wichtigste von allen. Ich bräuchte die meiste Erholung, den besten Schlaf, die größte Ruhe. Ich schlief nie, wenn wir unterwegs waren. Ich lag in der Dunkelheit und wartete, bis die Türklinke niedergedrückt wurde. Manchmal graute dann schon der Morgen hinter dem fest verschlossenen Fenster. Immer legte er seine Hand auf meinen Mund. Seine schwitzigen, nach Rauch riechenden Finger. Tags sah man ihn nie rauchen. Er rauchte nur, wenn alle schon im Bett waren, bevor er zu mir kam, um mir seine Liebe zu schenken. Er sprach immer von Liebe. Ich glaubte ihm. Es war meine Schuld, dass ich ihn nicht zurücklieben konnte. Dass ich mich ekelte vor ihm. Seinem stinkenden Mund.
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