Frostherz
wälzte sich von einer Seite zur anderen. An Schlaf war nicht zu denken – selbst wenn sie heute ihre Schlaftablette genommen hätte, wäre er nicht gekommen. Zu viele widersprüchliche Gefühle jagten durch ihren Kopf, ihren Körper. Wunderbare, schöne, herrliche: Noch immer konnte sie die Berührung von Cornelius’ Lippen auf ihren spüren. Sie hätte am liebsten laut gelacht vor Freude – doch dann: Das zorngerötete Gesicht ihres Vaters, die Schreie von Brunner, die verängstigte Marita Jung. Waren die beiden etwa ein Paar? Aber warum verbrachte dann ihr Vater so viel Zeit mit der Maklerin?
Auch nachdem sie zu Hause angekommen waren, hatte Johann nicht mit ihr geredet. Vielleicht würde er das ja nie tun: Sie zur Rechenschaft ziehen. Vielleicht hatte er all die Jahre nur eine Drohkulisse aufgebaut – denn was er im schlimmsten Fall mit ihr getan hätte, wusste sie nicht. Immer hatte sie gehorcht. Immer stillschweigend alles hingenommen. Was, wenn er über keinerlei Mittel verfügte, sie zu bestrafen? Wenn er gar nicht wusste, wie?
Das Handy auf dem Nachttisch piepste. Normalerweise schaltete sie es abends aus, aber irgendwie hatte sie gehofft, dass ihr Cornelius noch eine SMS schreiben würde, nachdem sie sich so abrupt hatten trennen müssen. Sie fuhr hoch, griff nach dem Handy und sah sich den Nachrichteneingang an. Ein Foto baute sich langsam auf. In der Dunkelheit strahlte das helle Display gleißend. Zwei Körper waren zu sehen. Zwei nackte Körper, ineinander verschlungen, aus nächster Nähe fotografiert. Darunter stand: »In bed with Cornelius«
Zitternd ließ sie das Handy sinken. Klickte das Foto weg. Es half nichts. Auf den Rollladen wurde es projeziert. Auf die Wand über ihrem Bett. Das Poster von Laura Palmer überlagerte es, sogar auf ihrem Kopfkissen war es zu sehen. Das konnte nur von Ami kommen. Die Nummer war natürlich unterdrückt, so eine feige Ratte. Anne umklammerte das Handy so fest, als würde es ihr Leben kosten, wenn sie es losließe. Das auf dem Foto konnte nicht Cornelius sein. Oder doch? Sie hatte keine Gesichter erkennen können – nur einen schmalen, dürren Mädchenleib und den eines Jungen, irgendeines beliebigen Jungen. Aber was, wenn Cornelius erkannt hatte, dass es ein Fehler gewesen war, sie zu küssen? Wenn ihr Kuss bitter geschmeckt hätte, falsch… kindisch. Und er dann zu Ami gefahren war, sauer darüber, dass sie sich nicht gewehrt hatte gegen ihren Vater, sich einfach hatte abführen lassen von ihm wie ein Stück Vieh zur Schlachtbank. Dass sie nicht zu ihm gestanden hatte. Nervös tippte sie auf dem Handy herum. Öffnete das Bild erneut. Ja, das Mädchen könnte tatsächlich Ami sein, so dünn und ausgezehrt wie der Körper wirkte. Auch waren am oberen Bildrand dunkle, lockige Haare zu erkennen. Aber ob der Junge tatsächlich…? Es gab keinerlei Anhaltspunkte, wer er sein könnte. Es war nur ein Bluff, nur ein alberner, eifersüchtiger Bluff. Gerade jetzt?
»Scheiße«, rief Anne in das nächtliche Zimmer. Sie pulte den Akku aus dem Handy, es genügte nicht, es einfach abzuschalten, sie wollte, dass es tot war, still für immer. Dann zog sie sich die Bettdecke über den Kopf, lag aus allen Poren schwitzend darunter, aber das war noch immer besser, als die Kälte der Welt auf der Haut zu spüren.
Donnerstag, 10.06.
Es liegt vor mir auf dem Weg. Wie das Zeichen eines Gottes, den es nicht gibt. HEB MICH AUF, sagt es laut und deutlich und ich hebe es auf. Es liegt kühl in meiner Hand, stark, straff, fest. Ich fühle mich unbesiegbar. Ich will es zwischen den Bäumen spannen und von Ast zu Ast tanzen, zwanzig Meter über dem Boden. ICH GEHÖRE DIR, sagt es, ohne Widerspruch zu dulden. Ich verstehe seinen Auftrag. Ich gehe zum Haus des Peinigers und warte. Sitze auf der Mülltonne und verbrenne meinen Schädel in der Sonne. Ich spüre nichts. Nur die Kraft dieses stählernen Seils. HAB GEDULD, sagt es und ich habe Geduld. Ich spüre nicht den Durst in meiner Kehle, nicht den Hunger in meinem Magen. Ich summe die alten, bösen Lieder. Es macht mir nichts aus. Meine Stimme ist fast so hoch, fast so geschmeidig wie früher. Die Sonne sieht aus wie ein Scheinwerfer. Höre ich nicht den Applaus des Publikums? Wieder und wieder krümme ich das Seil in meinen Händen und mit einem Ruck ziehe ich es straff. Einmal, zweimal, vielmal. Die Sonne sinkt, der Scheinwerfer erlischt. Und dann kommt er, der Herr Koth. ACHTUNG, sagt das Seil und ich nehme Haltung an. Stelle
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