Frostherz
Seinen groben Händen. Seinem fiesen Geruch. Seinem… Meine Schuld, ganz allein meine Schuld, ich war ein dummer Junge und ich hätte ihn lieben müssen, wo er doch so gut zu mir war und mich bevorzugte. Immer durfte ich allein singen, ganz vorne in der ersten Reihe. Ihm verdankte ich, dass ich all die Lieder singen durfte, die mich wegbrachten aus meinem Leben. Nur mich lobte er und ich war so undankbar und gab ihm seine Liebe nicht zurück. »Herr Koth ist so ein brillanter Musiker«, hatte meine Mutter immer gesagt. »Und wie gut er mit den Jungen umgehen kann. Sei froh, dass du mitdarfst, dass du für ihn singen darfst, für den guten Herrn Koth. Sei dankbar, dass du mit ihm in fremde Länder fahren darfst. Wir können dir das nicht bieten.« Und ich gab ihr recht und es war meine Schuld, dass ich so undankbar war. Er tat ja nichts. Er war ja lieb zu mir. Immer war er so lieb zu mir.
Und jetzt hatte ich ihn sogar töten wollen. Ich bin ein widerliches Stück Scheiße, ein Nichts, abgewrackt und zerschlissen, unverdaut und ausgespuckt. Ich bin es nicht wert zu leben. Ich bin derjenige, dem man das Seil umschlingen sollte.
Wenn sie so weitermachte, würde sie die erste schlechte Note in ihrer gesamten Schullaufbahn riskieren. Anne schob das Heft von links nach rechts über den Schreibtisch und wieder zurück. Sie hatte schon eine ganze Seite voller Kringel, Kreuze und Wellenlinien vollgemalt, aber nicht einen Buchstaben. Irgendwie war der Uhrzeiger auf halb fünf gekrochen, auch wenn er für die letzten zehn Minuten gefühlte zwei Stunden gebraucht hatte. Sie schloss das Heft und stand auf. Ging in die Küche, trank kaltes Wasser. Sah in den Kühlschrank. Nahm nichts heraus. Ging ins Wohnzimmer. Kauerte sich auf das Sofa, umschlang die dicken Kissen. Ließ sie wieder los. Wenn er sie so sah… Ob er heute Abend schon mit ihr reden würde? Der Streit heute Morgen war schrecklich gewesen, er hatte richtig wehgetan, ihr Herz, ihr Magen, ihre Kehle, alles hatte gebrannt, sich gekrümmt. Aber hinterher war so eine Ruhe in ihr gewesen, wie sie sie noch nie verspürt hatte und nach der sie sich sehnte. Er musste mit ihr reden, wenigstens er.
Giftgrün hatten die Kontaktlinsen in seinen Augen heute Morgen geleuchtet. Sie konnte immer noch nicht glauben, dass Cornelius sie so abgefertigt hatte. Auch das tat weh. So unendlich weh. Was war nur los – mit ihm, mit ihr?
Sie streckte sich aus auf dem Sofa und spürte mit einem Mal nichts mehr als eine grenzenlose Müdigkeit.
Das Grollen eines Donners weckte sie. Durch die Terrassentür wehte es kühl herein. Irritiert setze sie sich auf. Wie spät war es? Kurz nach sechs schon. Wo war Johann? Sie sah sich im Haus um, konnte ihn aber nirgends entdecken. Sie wüsste nicht, dass er heute noch einen späten Termin gehabt hätte. Sie baute sich vor einer der Kameras auf, räusperte sich.
»Papa, wo bist du?«, fragte sie laut, obwohl sie wusste, dass der Ton nicht übertragen wurde. Sie griff zum Telefon, wählte seine Büronummer. Nur der Anrufbeantworter. Auf dem Handy war die Mailbox angeschaltet. Wegen des Gewitters? Funkloch, überlegte sie, Akku alle. Sie konnte ihren Vater sonst immer erreichen. Sie versuchte es im Zehn-Minuten-Takt, blätterte dazwischen unkonzentriert in ihrem Biologiebuch, sah noch mal die Unterlagen für ihr Referat durch. Er ging nicht ans Telefon. Ohne lange zu überlegen, wählte sie Cornelius’ Nummer. Und wenn sie ihn nur an das Referat morgen erinnern würde. Ganz sachlich. Auch hier gab es keine Verbindung. Wie auf einer Insel der Einsamkeit saß sie in ihrem Zimmer, Tränen unterdrückend. Sie war so mutig gewesen, so mutig! Hatte mit ihrem Vater gesprochen. Hatte Cornelius geküsst. Hatte sich getraut. Und das Einzige was blieb, war die Einsamkeit.
Ihr Magen knurrte vor Hunger, aber sie missachtete ihn. Wurde ihr Mut denn gar nicht belohnt? Musste sie noch mutiger sein?
Es war kurz nach halb acht, als sie endlich das Türschloss hörte. Sie sprang auf, lief ihrem Vater entgegen, wollte ihn beschimpfen, weil er sie allein gelassen hatte, im Ungewissen. Doch abrupt hielt sie inne. Er war nicht allein.
»Tut mir leid, mein Schatz«, sagte er, aber seine Stimme klang viel zu fröhlich, es war nur eine Floskel. »Wir mussten… ich musste…«, und dann drehte er sich zu Marita Jung um, die dicht hinter ihm stand und ein wenig verlegen am Griff eines Rollkoffers herumspielte.
»Äh, Marita, also Frau Jung…«, stotterte ihr Vater weiter.
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