Frostkuss
Tränen ist das Behältnis, in dem die nordische Göttin Sigyn das Schlangengift auffing, das auf ihren Ehemann Loki tropfte, als er zum ersten Mal von den anderen Göttern gefangen gehalten wurde. Das war lange vor dem Chaoskrieg. Wann immer Sigyn die Schale leerte, tropfte das Gift auf Lokis Gesicht und verbrannte ihn, sodass er aufschrie. Seine Schmerzensschreie waren so laut, dass die Erde noch Kilometer entfernt zitterte. Deswegen nennt man sie die Schale der Tränen. Es ist ein unglaublich bedeutendes Artefakt. Eines der Dreizehn Artefakte, um die und mit denen das Pantheon und die Schnitter in der letzten großen Schlacht des Chaoskriegs gekämpft haben …«
Es war unglaublich langweiliges Gerede, und sofort schweiften meine Gedanken ab. Noch mehr dumme Götter und Göttinnen. Ich verstand nicht, wie Nickamedes sie überhaupt alle auseinanderhalten konnte. Ich hatte schon Schwierigkeiten, mich für einen der griechischen Götter zu entscheiden, um für Professor Metis’ Mythengeschichte einen Aufsatz über ihn zu schreiben.
Endlich, nach fünf langen, endlosen Minuten, in denen er ununterbrochen Fakten herunterleierte, beruhigte sich Nickamedes wieder. Ein Professor, der an einem Tisch in der Nähe gesessen hatte, kam herüber, um ihm eine Frage zu stellen, und der Bibliothekar verschwand mit dem anderen Mann. Ich schüttelte in dem Versuch, die einschläfernde Wirkung des Vortrags wieder loszuwerden, den Kopf und ging zurück zu meinem Platz hinter dem Tresen.
In den nächsten drei Stunden gab ich Bücher aus, beantwortete Fragen und erfüllte andere niedere Handlangerdienste. Die Bibliothek war der eine Ort, an dem die anderen Mythos-Schüler mich bemerken und mit mir sprechen mussten, und sei es nur, um ihre Hausaufgaben erledigen zu können.
Nachdem die Schüler den Campus unter der Woche nicht verlassen durften, war die Bibliothek auch der Ort zum Abhängen und Gesehenwerden. Außerdem schlichen sich viele gerne davon, um zwischen den Regalen herumzumachen. Ich hatte beim Zurückstellen der Bücher schon mehr als ein benutztes Kondom gefunden. Igitt. Ich wollte meine Jungfräulichkeit nicht gerade an einem Regal voller Bücher verlieren, aber in Mythos war es der letzte Schrei. Zumindest diesen Monat.
Jasmine Ashton, Morgan McDougall und Daphne Cruz waren unter denen, die während meiner Schicht in die Bibliothek kamen. Die drei Walküren schnappten sich gekühlte Mokkas und ein paar Himbeermuffins, dann sicherten sie sich einen Tisch in der Nähe des Kaffeewagens, damit jeder sie sah, der kam und ging. Samson Sorensen war auch dabei, aber er interessierte sich kaum für etwas anderes als das Sportmagazin, das er durchblätterte.
Nach ein paar Minuten stand Jasmine auf, um eine Runde zu drehen und mit den anderen beliebten Schülern zu reden, die heute Abend in der Bibliothek saßen. Morgan und Samson steckten die Köpfe zusammen, um sich zu unterhalten, aber Daphne war anscheinend tatsächlich zum Lernen gekommen, denn sie suchte sich einen eigenen Tisch.
Als sie mich hinter dem Ausleihschalter entdeckte, warf sie mir einen bösen Blick zu. Dann riss sie ihren Laptop aus der Tasche, klappte ihn auf und fing an zu tippen. Ich widerstand dem Drang, ihr die Zunge herauszustrecken. Es war nicht meine Schuld, dass Daphne total in einen Musikfreak verschossen war und ihre bösartigen Freundinnen sich über sie lustig machen würden, wenn sie ihnen sagte, dass sie ihn mochte, oder noch schlimmer, tatsächlich mit ihm ausgehen wollte.
Schließlich, gegen neun Uhr, leerte sich die Bibliothek. Die Schüler packten ihre Taschen und wanderten rechtzeitig vor der Ausgangssperre um zehn Uhr zurück in ihre Wohnheime. Nickamedes kündigte an, er habe etwas in der Naturwissenschaft zu erledigen, bevor er die Bibliothek schloss. Aber statt mich einfach gehen zu lassen, schob der Bibliothekar mir einen Wagen voller Bücher hin und erklärte, dass ich sie besser zurückgeräumt haben solle, bevor er zurückkomme. Wie ich schon sagte, er nervte wirklich fürchterlich.
Aber ich konnte nichts machen. Wenn ich ging, ohne die Bücher zurückzuräumen, würde der Wagen einfach nur hier auf mich warten, bis ich das nächste Mal zum Arbeiten kam. Nickamedes war diese Art von Idiot. Also schob ich den Metallwagen zwischen die Regale, griff mir die Bücher und fing an, sie dorthin zurückzuräumen, wo sie hingehörten. Fast alle Bände waren alte Nachschlagewerke, die über die Jahre Hunderte und Aberhunderte von
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