Frostkuss
bedeutet hat als das verzogene Miststück Jasmine Ashton.«
Seine Stimme klang jetzt rau, sein Gesicht wirkte hart, und in seinen Augen stand eine Trauer, die ich erkannte.
»Wen hast du verloren?«
»Meinen Onkel«, sagte er. »Er wurde letztes Jahr im Kampf gegen eine Gruppe Schnitter getötet. Als es passiert ist, war er gerade mit seiner Freundin zum Essen ausgegangen.«
»Aber warum? Was hat er ihnen getan? Hatte er irgendein Artefakt oder etwas anderes, das sie wollten?«, fragte ich, weil ich an die gestohlene Schale der Tränen denken musste.
»Nein, nichts«, sagte Carson mit kalter Stimme. »Er hatte überhaupt nichts, was sie wollten. Sie haben ihn einfach nur gesehen und ihn umgebracht, weil sie Schnitter sind und es ihnen gefällt, Leuten wehzutun, besonders Kriegern wie uns. Sie töten uns, bevor wir sie töten können, weil sie wissen, dass wir für sie eine Bedrohung darstellen, dass wir hier sind, um zu lernen, wie wir sie und Loki aufhalten können – endgültig. Aber nicht jeder wird diesen Tag erleben, wann immer er auch kommt.«
Der offene Schmerz in seiner Stimme brachte mich dazu, das Gesicht zu verziehen.
»Carson, es tut mir leid. Das wusste ich nicht.«
»Jetzt weißt du es«, sagte er leise und drehte sich wieder um.
Für den Rest der Stunde sah Carson mich weder an, noch sprach er mit mir. Ich konnte es ihm nicht verdenken. Ich hatte versucht zu verstehen, hatte versucht herauszufinden, warum die Dinge hier so anders liefen, und war voll ins Fettnäpfchen getrampelt.
Nach Mythengeschichte ging ich zur Bibliothek der Altertümer. Als ich den Hof überquerte, ging mir auf, dass die anderen Schüler sehr wohl von Jasmines Tod berührt waren. Ich konnte es an der Art erkennen, wie sie sich in Gruppen zusammendrängten, an der Härte in vielen Gesichtern, daran, dass sie ein wenig zu schnell redeten und ein wenig zu laut lachten. Doch, sie hatten Jasmines Tod genauso empfunden wie ich, und sie versuchten damit klarzukommen – selbst wenn sie es nicht auf die Art taten, die ich erwartet hatte.
Ich wusste nicht, ob es das besser machte oder schlimmer.
Anscheinend war ich nicht die Einzige, die neugierig, erschrocken oder irgendwas war, denn die Bibliothek war um einiges voller als normalerweise. Fast jeder Tisch war gut besetzt, und fast jeder Schüler warf regelmäßig kurze Blicke auf die Stelle, an der Jasmine gelegen hatte.
Es gab nichts zu sehen. Die zerbrochene Vitrine und die Glasscherben waren verschwunden, zusammen mit Jasmines Blut. Und natürlich war auch ihre Leiche weg. Es war gar nichts mehr da, nicht mal ein paar Blumen, Teddybären oder ein paar brennende Kerzen, um an die tote Walküre zu erinnern. Nach dem Mord an David Jordan hatten die Leute seinen Spind in einen Schrein verwandelt, übersät mit Karten und Fotos und anderem Zeug. Aber nicht hier in Mythos.
Schließlich zerstreute sich die Menge, und ich entdeckte einen freien Platz am Ende eines langen Bibliothekstisches. Ich zog meine Bücher hervor und versuchte zu lernen, versuchte mich auf den Aufsatz zu konzentrieren, den ich für Professor Metis’ Mythengeschichtsunterricht schreiben musste. Aber ich konnte es nicht. Es half auch nicht gerade, dass alle immer noch über Jasmine sprachen.
»… hat bekommen, was sie verdient hat, wenn du mich fragst«, flüsterte ein Mädchen. »Jasmine hat sich immer für was Besseres gehalten.«
»O ja«, stimmte ein Kerl zu. »Es ist schrecklich, aber zumindest muss ich sie in Griechisch nicht mehr ertragen. Sie hat mich ständig verarscht.«
»Mich auch. Was mir wirklich Angst macht, ist die Tatsache, dass ein Schnitter in der Bibliothek war.« Das Mädchen schüttelte sich. »Schnitter sollten eigentlich nicht mal das Campusgelände betreten können, und noch weniger sollten sie irgendwas aus der Bibliothek stehlen. Das macht mir viel mehr Sorgen als Jasmine.«
Ich wusste, dass die anderen auf ihre Art trauerten, Druck abließen oder was auch immer. Und ja, vielleicht war Jasmine tatsächlich ein verzogenes Miststück gewesen, genau wie Carson gesagt hatte. Aber trotzdem, irgendwen sollte es kümmern, dass sie tot war. Ich meine, es sollte jemanden wirklich interessieren . Jemand sollte traurig sein, weil sie gestorben war. Jemand sollte genau wissen wollen, was ihr zugestoßen war und warum. Jemand sollte versuchen, dafür zu sorgen, dass einem anderen Schüler nicht dasselbe passierte.
Für einen Moment stieg Paige Forrests Gesicht vor meinem inneren Auge
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