Frostkuss
sie mit keinerlei Problemen rechneten.
Ich dachte daran, wie mühelos ich mich heute Nachmittag zwischen den Sphingen durch die Gitterstäbe des Haupttors gedrückt hatte, um den Campus zu verlassen. Anscheinend war es jemand anderem genauso mühelos gelungen, heute Abend in die Bibliothek zu kommen und Jasmine umzubringen. Nickamedes’ Zauber und der Rest der magischen Security der Schule hatten weder das eine noch das andere verhindert. Genauso wie die Regeln der Schule und die Strafandrohungen keinen Jugendlichen davon abhielten, zu trinken, rauchen oder Sex in den Wohnheimzimmern zu haben. Aber ich hielt den Mund.
»Also«, sagte Metis, die mein Schweigen offensichtlich als Zustimmung deutete. »Soll ich mir die Beule an deinem Kopf mal anschauen? Ich kann dich heilen, wenn du es möchtest. Du wirst nicht mehr merken, dass man dich bewusstlos geschlagen hat.«
Ich blinzelte. »Sie können mich heilen? Wie?«
Metis streckte ihre Hände aus, die Handflächen nach oben. Im Licht der Laterne vor dem Wohnheim wirkten sie so glatt wie polierte Bronze. »Ich habe ein magisches Talent dafür, Verletzungen zu heilen. Ich muss jemanden nur berühren, mir vorstellen, wie er heilt, und dann passiert es auch.«
Das war eine ziemlich coole Gabe, und ich hatte auf dem Campus schon von ein paar Jugendlichen gehört, die dieselbe Fähigkeit besaßen. Alle Schüler von Mythos konnten irgendetwas Besonderes, etwas Magisches, das sie als eine bestimmte Art von Krieger auszeichnete. Walküren und Wikinger waren unglaublich stark, Amazonen und Römer waren superschnell, Spartaner konnten einen mit allem töten, was gerade zur Hand war. Und als wäre das noch nicht genug, hatten die Schüler obendrein noch andere Magie, sozusagen Zusatzkräfte. Sie reichten von hochempfindlichen Sinnen über Blitze aus den Fingerspitzen bis zu der Fähigkeit, Feuer mit bloßen Händen zu entzünden.
Ich fragte mich, wozu die Heilgabe Metis machte. War sie eine Walküre oder eine Amazone oder etwas anderes statt einfach nur meine Lehrerin in Mythengeschichte? Vielleicht hätte ich es sogar riskiert, mich von ihr heilen zu lassen, wenn sie dafür nicht meinen Kopf hätte berühren müssen. Ich wollte heute Nacht niemanden und nichts Fremdes berühren. Ich hatte in den letzten zwei Stunden genug schreckliche Dinge erlebt. Ich wollte sonst nichts mehr sehen.
»Nein danke«, sagte ich also. »Ich werde einfach gehen und … es wegschlafen oder so.«
Verständnis blitzte in Metis’ Augen auf, und sie nickte. »Also gut. Ich habe dich in der Bibliothek untersucht, bevor du aufgewacht bist. Die Verletzung ist nicht so schlimm. Wenn du heute Nacht richtig schläfst, sollte es dir wieder gut gehen. Aber falls du Probleme bekommst, unscharf siehst oder irgendwas in der Art, komm sofort zu mir.«
Ich bezweifelte, dass ich gut schlafen würde, nachdem ich ein ermordetes Mädchen gefunden hatte, aber ich sagte nichts, sondern nickte nur.
Professor Metis wandte sich zum Gehen, dann zögerte sie und sah mich noch einmal an. »Ich weiß nicht, ob ich es dir schon gesagt habe, aber das war sehr tapfer von dir, Gwen, wie du versucht hast, Jasmine zu helfen. Die meisten Leute hätten einfach geschrien und wären weggelaufen.«
Ich zuckte mit den Schultern. Ich hielt mich nicht für tapfer. Ich hatte mehr aus Instinkt gehandelt als bewusst gedacht. Ein dummer Instinkt, wenn man bedachte, dass man mich bewusstlos geschlagen hatte und Jasmine trotzdem gestorben war.
»Das hätte auch deine Mutter getan«, sagte Metis mit leiser Stimme.
Ich starrte sie an, weil mich der vertraute Ton in ihrer Stimme wunderte. Es klang fast, als hätte sie meine Mom gekannt. Aber wie sollte das möglich sein? Soweit ich wusste, hatte Grace Frost nie auch nur einen Fuß in die Akademie gesetzt …
»Sie war Ermittlungsbeamtin, oder?«, fügte Metis hinzu.
»Ja«, sagte ich und fragte mich, woher die Professorin das wusste. Ich hatte niemandem in Mythos je von meiner Mom erzählt. »Sie war bei der Polizei. Und sie war gut.«
Aber jetzt ist sie tot, und es ist mein Fehler. Tränen traten mir in die Augen, meine Kehle wurde eng, und ich konnte den Gedanken nicht zu Ende denken. Der übliche Schmerz, eine Mischung aus Trauer und Schuldgefühlen, füllte mein Herz und überwältigte alles andere.
Tief in mir wusste ich, dass ich nichts für den betrunkenen Fahrer konnte, der das Auto meiner Mom von der Seite gerammt hatte, um dann davonzufahren und sie im Autowrack sterben zu
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