Frostkuss
lassen. Es war ein Unfall gewesen, ein dummer, dämlicher Unfall und sonst nichts.
Trotzdem fragte ich mich, wie mein Leben jetzt aussehen würde, jetzt in dieser Sekunde, wenn ich nicht die schrecklichen Dinge gesehen hätte, die Paiges Stiefvater ihr angetan hatte.
Ich kam nicht gegen die Überzeugung an, dass meine Mom noch am Leben wäre. Dass ich in unserem alten Haus am anderen Ende der Stadt in meinem eigenen Bett läge. Und dass ich morgen früh aufstehen würde, um mit meinen alten Freunden auf meine alte Schule zu gehen. Anstatt hier auf der Mythos Academy festzuhängen, wo gerade ein Mädchen ermordet worden war und wo laut Professor Metis hinter jeder Ecke Gefahren und Bösewichter lauerten.
Ich konnte nicht anders, als zu glauben, dass mein Leben so viel besser wäre. So viel einfacher. So viel normaler als diese Freakshow, in der ich jetzt gefangen saß.
Metis öffnete den Mund, als wollte sie noch etwas sagen, aber ich drehte ihr den Rücken zu, damit sie nicht die heißen Tränen in meinen Augen sah.
»Na, dann geh jetzt mal rein und ruh dich aus«, sagte sie schließlich mit sanfter Stimme. »Und ruf mich jederzeit, wenn du über etwas sprechen willst, egal über was.«
»Okay«, sagte ich. »Sicher. Danke, Professor.«
Statt sie noch einmal anzusehen, schob ich die Tür auf und trat ins Wohnheim, um zumindest für eine Nacht Metis und alles andere auszuschließen.
Der Mord an Jasmine Ashton war am nächsten Tag Gesprächsthema Nummer eins in der Mythos Academy.
Aber nicht in der Art, wie ich es erwartet hatte.
Alle Professoren verkündeten die Neuigkeit in der ersten Stunde. Es wurde nicht erwähnt, dass ich Jasmines Leiche gefunden hatte. Die offizielle Geschichte besagte, Nickamedes habe sie in der Bibliothek entdeckt, zusammen mit der zerschlagenen Vitrine und der Tatsache, dass jemand die Schale der Tränen gestohlen hatte. Die Professoren versicherten allen Schülern, Jasmine sei zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen und ihr Mörder sei wahrscheinlich zusammen mit dem Artefakt geflohen. Aber, nur um sicherzugehen, sollten die Schüler nirgendwo allein hingehen und sofort einen Professor rufen, wenn sie irgendetwas Verdächtiges bemerkten.
Danach gab es eine schulweite Schweigeminute für Jasmine, damit wir alle für ihre Seele beten konnten – oder was auch immer man auf Mythos eben tat.
Zwei der Walküren, mit denen Jasmine befreundet gewesen war, saßen in der ersten Stunde mit mir in Englisch. Ich wartete darauf, dass sie darum baten, entschuldigt zu werden, um den Rest des Tages in ihren Zimmern zu verbringen und zu verarbeiten, was ihrer Freundin zugestoßen war. Sicher wollten sie doch ein wenig Zeit für sich, um einfach traurig zu sein und um sie zu trauern und zu weinen. Aber die beiden Mädchen schlugen ihre Bücher auf, holten ihre Laptops heraus und begannen wie der Rest von uns, an ihrem aktuellen kritischen Aufsatz zu arbeiten. Als wäre alles normal . Als wäre nichts Außergewöhnliches passiert. Hätte ich nicht immer noch leichtes Kopfweh gehabt, ich wäre versucht gewesen zu glauben, dass ich mir die Geschehnisse des letzten Abends nur eingebildet hatte.
Mein Blick huschte von Gesicht zu Gesicht, aber alle anderen waren ebenso ruhig und gefasst wie die zwei Walküren. Niemand weinte. Niemand wirkte erschüttert. Niemand schien Angst zu haben, weil eine Klassenkameradin am Abend zuvor umgebracht worden war.
Letztes Jahr auf meiner alten Schule war der beliebte Footballspieler David Jordan beim Jobben im Supermarkt bei einem bewaffneten Raubüberfall erschossen worden. Die Leute waren am nächsten Tag vollkommen hysterisch gewesen. Hatten geweint, geschluchzt, geschrien, sich gefragt, warum David erschossen worden war, warum er sterben musste, was er je getan hatte, um es zu verdienen, Opfer einer so gewalttätigen, schrecklichen, zufälligen Tat zu werden. Die Schule hatte Psychologen angefordert, um Davids Freunde und alle anderen zu betreuen, die sich von seinem Tod getroffen fühlten.
Jasmine Ashton war das beliebteste Mädchen im zweiten Jahrgang gewesen. Sicher, sie war laut Professor Metis nicht der erste Schüler, der in Mythos starb, aber Jasmines Tod musste doch trotzdem unerwartet und schockierend gekommen sein. Doch alle gingen so selbstverständlich damit um.
Es war unheimlich .
Und es war den ganzen Tag dasselbe. Oh, die Schüler redeten über Jasmine und den schrecklichen Mord an ihr, aber absolut nicht so, wie ich es erwartet hatte.
»Was
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