Frostkuss
Rubin im Heft. Aber ich wusste, dass sie einen Laptop besaß, weil ich sie gestern auf dem Hof damit gesehen hatte. Der beste Ort, um danach zu suchen, war wahrscheinlich ihr Zimmer im Wohnheim.
Ich warf noch einen Blick auf die Internetseite vor mir. Ihrem Campusprofil zufolge wohnte Jasmine in Walhalla. Ich schnaubte. Natürlich. Dort lebten alle Walkürenprinzessinnen. Immerhin war es das vornehmste und schickste Wohnheim der Schule.
Wenn man den Gerüchten glaubte, die ich heute gehört hatte, war Jasmines Zimmer verschlossen worden, bis ihre Eltern kommen und ihre Sachen abholen konnten. Ich war keine großartige Ermittlerin, wie meine Mom es gewesen war, aber die Gerüchte verrieten mir zwei Dinge. Zum einen: Jasmines Zimmer sollte leer sein. Und zum anderen: Wenn ich bei ihr einbrechen wollte, um ihren Laptop zu stehlen, sollte ich es bald tun – so ungefähr jetzt sofort. Bevor ihre Eltern den Rückflug aus Griechenland antraten oder sich magisch nach Hause teleportieren ließen oder was auch immer.
Und besonders, bevor ich die Nerven verlor.
Ich blieb eine Minute sitzen und überlegte, ob ich wohl verrückt war. Ich dachte ernsthaft darüber nach, in das Zimmer eines toten Mädchens einzubrechen und ihren Computer zu stehlen, nur um zu sehen, welche Informationen darauf gespeichert waren. Einfach nur, um herauszufinden, warum sie gestern Nacht in der Bibliothek gewesen war. Nur, um ihre Geheimnisse zu lüften.
Ich seufzte. Es ging wieder los. Ich dachte über die Geheimnisse eines anderen Mädchens nach und darüber, wie ich alles darüber erfahren konnte. Manchmal war ich wirklich krank. Trotz allem, was mir schon passiert war, mochte ich meine Gypsygabe immer noch, und ich liebte es, dass sie mir Dinge über Leute verriet, mir Einblick in ihr Innerstes verschaffte, indem sie mir ihre wahren Gefühle zeigte. Die Gefühle, die sie so verzweifelt zu verstecken suchten. Wie Daphnes Schwärmerei für Carson. Meine Psychometrie war die einzige Art von Macht, die ich in Mythos hatte, so unbedeutend sie auch war.
Aber die kalte, harte Wahrheit lautete, dass mein Hunger nach Geheimnissen, meine eigene, dämliche Neugier, meine Mom umgebracht hatte. Vielleicht hätte meine Mom an diesem Abend nicht so lange gearbeitet und wäre nie auf dem Heimweg von diesem betrunkenen Fahrer gerammt worden, hätte ich nicht Paiges Geheimnis erfahren wollen.
Vielleicht könnte meine Mom noch leben. Vielleicht säßen wir in diesem Moment gerade beim Abendessen zusammen. Barbecue zum Mitnehmen von Pork Pit, das wir zusammen in der gemütlichen Küche unseres alten Hauses aßen, so wie wir es mindestens einmal die Woche getan hatten. Mom würde mir mit ein wenig traurigen, violetten Augen von ihrem Tag erzählen, und mir würde es gelingen, sie zum Lachen zu bringen und die Schatten zu bannen, die ihr Gesicht verdüsterten. Danach fragte sie mich über die Schule aus oder erkundigte sich nach dem aktuellen Comic oder neckte mich wegen eines Jungen, auf den ich stand. Vielleicht würden wir jetzt im Moment all diese Dinge tun, in dieser Sekunde , wenn es anders gelaufen wäre.
Andererseits, vielleicht würde Paige dann immer noch von ihrem Stiefvater missbraucht.
Vielleicht, vielleicht, vielleicht.
Die Schuldgefühle und die Trauer über den Tod meiner Mom zogen mir das Herz zusammen, und ich rieb mir die schmerzende Brust. Manchmal wusste ich nicht mehr, was richtig und was falsch war oder was ich überhaupt mit meiner Gypsygabe anfangen sollte. Tief in meinem Herzen war ich davon überzeugt, dass sie nicht dafür bestimmt war, für den Rest meines Lebens verlorene Handys oder zerknüllte BHs zu finden. Aber ich wusste trotzdem nicht, ob ich mich in die Angelegenheiten anderer Leute einmischen sollte. Es war das ganze Spider-Man-Dilemma, das besagte, dass mit großer Macht auch immer große Verantwortung einhergeht. Nicht dass ich meine Psychometrie für die beste Gabe der Welt hielt oder so. So eitel oder verblendet war ich dann doch nicht. Vor allem nicht, nachdem ich gesehen hatte, was einige der anderen Schüler von Mythos konnten.
Vielleicht … vielleicht sollte ich diesen ganzen verrückten Plan einfach vergessen und Professor Metis tun lassen, was auch immer sie und die anderen Lehrer eben taten, um Jasmines Killer zu finden.
Aber dann stieg eine andere Erinnerung in mir auf, und ich sah wieder Jasmine vor mir, wie sie auf dem Boden der Bibliothek gelegen hatte, inmitten von ihrem eigenen Blut. Sie hatte so ruhig
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