Frostkuss
Die Waffe sah genauso aus wie letzte Nacht. Silbernes Metall, lange Klinge mit blasser Schrift darauf, ein Männergesicht in das Heft geritzt.
Ich wartete eine Minute, aber das Auge am Knauf öffnete sich nicht, um mich anzustarren. Gut. Vielleicht wurde ich ja doch nicht verrückt.
Ich setzte mich an den Tisch, zerrte meinen Notizblock aus der Tasche und machte mich daran, alles aufzuschreiben, was ich über Jasmine Ashton wusste. Je mehr ich über sie in Erfahrung brachte, desto einfacher konnte ich herausfinden, warum sie gestern Abend in der Bibliothek gewesen war – und wer sie umgebracht hatte.
Ich wusste nicht viel.
Jasmine war hübsch, beliebt und absolut gemein. Eine Walküre, die Designerklamotten liebte und deren Familie tiefe, tiefe Taschen hatte. Und … und … das war’s auch schon. Das war alles, was ich über sie sagen konnte. Das war die Gesamtzusammenfassung ihrer Existenz, soweit es mich betraf. Ich wusste nicht einmal, was ihre andere magische Gabe neben ihrer Walkürenstärke gewesen war.
Für einen Moment war ich deprimiert. Das war dämlich. Es war ja nicht so, als wäre ich Sherlock Holmes oder Batman oder jemand in der Art. Jemand, der fähig war, mit nur ein paar Hinweisen ein komplexes Rätsel zu entschlüsseln. Vielleicht hatte ja wirklich irgendein zufälliger Bösewicht Jasmine umgebracht, irgendein Schnitter des Chaos, der nur hinter der Schale der Tränen her gewesen war, um damit böse, böse Dinge anzustellen.
Aber dann dachte ich an meine Mom. Irgendetwas an der Sache fühlte sich für mich falsch an, und meine Mom hatte mir immer gesagt, ich solle meinen Gefühlen vertrauen, solle meiner Gypsygabe vertrauen. Außerdem würde Grace Frost die Ermittlungen zu Jasmines Tod nicht so einfach einstellen. Und ich ebenso wenig.
Okay, ich brauchte mehr Informationen über Jasmine, und ich wusste zumindest einen Ort, wo ich danach suchen konnte – das Internet.
Ich zog meinen Laptop aus der Tasche und fuhr ihn hoch. Die Mythos Academy bot nur das Beste von allem, inklusive kostenlosem, campusweitem Internetempfang, also hatte ich schon nach ein paar Klicks mit meiner kabellosen Maus die Schulinternetseite aufgerufen. Theoretisch hatte jeder Mythos-Schüler seine oder ihre persönliche Schulseite, um Interessen, Bilder und anderes mit Mitschülern zu teilen. Ein bisschen wie ein Facebook-Account, der nur den anderen Schülern zugänglich war. Aber einige Leute, mich eingeschlossen, machten sich die Mühe einfach nicht. Ich hatte schließlich keine Freunde in Mythos, wer sollte also mein Geschreibsel lesen?
Aber Jasmine hatte natürlich ein Blog und, ihrem Campusprofil zufolge, mehr als zweihundert Freunde. Ich scrollte runter und überflog ihr Blog, aber dort war nichts zu finden. Nur gehässige Kommentare darüber, wer was trug, zusammen mit ein paar verträumten Einträgen, was für ein toller Kerl Samson Sorensen war. Eben das typische Reiches-berühmtes-Highschool-Mädchen-Zeug. Oder was als solches durchging. Es gab außerdem mehrere Bilder von Samson in seiner winzigen Schwimmhose bei verschiedenen Wettkämpfen. Der Kerl hatte mal ein absolutes Sixpack. Ja, ich habe mir diese Bilder ein wenig länger und ein wenig genauer angesehen als die anderen.
Aber Jasmine hatte nichts auf ihrer Seite gepostet, das mir tiefere Einblicke in ihre Persönlichkeit verschaffte, und noch weniger verriet es mir, warum sie gestern Nacht in der Bibliothek gewesen war. Das hieß, dass ich eine andere Informationsquelle auftun musste.
Wie zum Beispiel ihren Laptop. Da würde ich all die guten Sachen finden. Dort gab es immer etwas. Selbst in meiner alten Schule waren die Leute immer vollkommen durchgedreht, wenn sie ihre Laptops verloren hatten, weil sie an all das belastende Zeugs dachten, das jemand darauf finden konnte. Wie E-Mails darüber, wie sehr sie sich mit ihren Freunden am Wochenende besoffen hatten, während ihre Eltern dachten, sie seien im Band-Camp. Aufsätze, die sie sich für Englische Literatur heruntergeladen und abgeschrieben hatten. Pornos.
Ich trommelte mit den Fingern auf den Tisch und dachte über gestern Abend nach, rief die Erinnerung an den Tatort auf und durchforstete sie, wie ich es eben konnte. In gewisser Weise war meine psychometrische Magie besser, als sich einen Film anzuschauen, weil bei mir Farbe, Bildqualität und Sound einfach jedes Mal perfekt waren.
Ich hatte neben Jasmine weder eine Tasche noch einen Computer entdeckt, nur diesen sauberen Dolch mit dem
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