Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Frostkuss

Frostkuss

Titel: Frostkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Estep
Vom Netzwerk:
auf, und ich erinnerte mich daran, wie sie mich an diesem Tag angesehen hatte. In ihren Augen hatte … Verzweiflung gestanden. In diesem Moment, in der Sekunde, bevor ich die Bürste berührt hatte, hatte ein Teil von mir, ein kleiner Teil, verstanden, dass Paige etwas versteckte – etwas Riesiges, etwas Schlimmes. Und ich hatte wissen wollen, was ihr Geheimnis war, wie ich es immer wollte. Also hatte ich ihre Bürste aufgehoben. Ich hatte mir nur niemals auch nur erträumen können, wie grauenhaft Paiges Geheimnis war.
    Das viele Nachdenken über Paige löste eine Welle von Bildern und Gefühlen aus, und ich sah vor meinem inneren Auge alles noch einmal. Wie Paiges Stiefvater ihr die Haare bürstete und sie sich dann auf das Bett legen musste, damit er sie berühren konnte. Ich fühlte auch alles wieder – Paiges Scham und Angst und Hilflosigkeit. Sobald ich etwas gesehen hatte, sobald eine Person oder ein Gegenstand eine Vision hervorgerufen hatten, waren diese Erinnerungen für immer Teil von mir, und ich konnte sie immer wieder fühlen und sehen. Wahrscheinlich war das die Gypsyversion eines fotografischen Gedächtnisses. Ich konnte einzelne Erinnerungen aufrufen und mich auf sie konzentrieren, jedes noch so kleine Detail analysieren, das ich gesehen, gefühlt oder gehört hatte. Aber manchmal trafen sie mich auch einfach, ob ich es wollte oder nicht, wie es die Erinnerungen von Paige jetzt taten. In gewisser Weise betrachtete ich es als Bestrafung dafür, dass ich so verdammt neugierig war.
    Ich grub die Fingernägel in meine Handfläche und kämpfte gegen Paiges Erinnerungen an, bevor ich wieder anfangen konnte zu schreien. Ich atmete tief durch und konzentrierte mich auf ein anderes Bild – meine Mom. Erinnerte mich an ihr Gesicht, ihre Stimme, ihr Lächeln, ihr Lachen, bemühte mich, mir jedes noch so kleine Detail überdeutlich vorzustellen. Das war ein Trick, den sie mir beigebracht hatte, um gegen unerwünschte Erinnerungen anzugehen. Denk an etwas Gutes und vergiss das Böse, soweit es eben geht.
    Es funktionierte nicht immer, aber diesmal schon.
    Paiges grässliche Erinnerungen verblassten und wurden wieder in einer dunklen Ecke meines Hirns weggeschlossen, direkt neben den anderen schlimmen Dingen, die ich über die Jahre gesehen und gefühlt hatte.
    Trotzdem brachte mich dieses Aufblitzen der Gefühle dazu, darüber nachzudenken, was ich eigentlich getan hatte, um Paige zu helfen. Sicher, ich hatte ihr Geheimnis wissen wollen, aber ich hatte auch meiner Mom erzählt, was geschehen war. Und ich hatte meiner Mom zumindest ein bisschen dabei geholfen, Paiges Stiefvater davon abzuhalten, sie weiter zu verletzen. Ich dachte darüber nach, was Professor Metis letzte Nacht gesagt hatte – dass meine Mom stolz auf mich gewesen wäre, weil ich Jasmine hatte helfen wollen, obwohl die meisten Leute einfach nur weggelaufen wären.
    In diesem Moment traf ich eine Entscheidung.
    Vielleicht war es verrückt. Vielleicht lag es an diesem nagenden Verdacht, dass es um mehr gegangen war als nur darum, eine magische Schale zu stehlen. Vielleicht war es dumm oder albern oder einfach nur falsch.
    Aber ich wollte mehr über Jasmine erfahren. Ganz speziell wollte ich wissen, warum sie so spät am Abend noch in der Bibliothek gewesen war. Ich wollte herausfinden, was ihr wirklich zugestoßen war und wer dafür die Verantwortung trug.
    Vielleicht … vielleicht musste ich es auch für mich selbst tun, um zu verstehen, warum derjenige, der die Schale der Tränen gestohlen hatte, Jasmine umgebracht, aber mich am Leben gelassen hatte. Vielleicht war es ja eine seltsame Form von Schuld des Überlebenden oder so was.
    Aber irgendwie würde ich Antworten auf meine Fragen finden. Schließlich war ich Gwen Frost, das Gypsymädchen, das Dinge sah. Das Mädchen, das man anheuerte, wenn man etwas verloren hatte. Ich war gut darin, Dinge herauszufinden. Die Wahrheit über den Mord an Jasmine offenzulegen, war sicher nicht allzu schwierig.
    Außerdem war das ein Geheimnis, das ich unbedingt aufdecken wollte – komme, was da wolle.

Ich saß mitten in der Bibliothek zwischen all den anderen Schülern, die gekommen waren, um zu gaffen. Dort konnte ich mich nicht konzentrieren. Also suchte ich mir einen Tisch zwischen den Regalreihen ganz hinten in der Bibliothek – in der Ecke mit dem Schaukasten, in dem das seltsame Schwert lag.
    Ich warf meine Tasche auf den Tisch, dann ging ich zu der Vitrine und starrte auf das Schwert hinunter.

Weitere Kostenlose Bücher