Frostkuss
Walküre starrte mich an, während ihre Finger auf das weiße Tischtuch trommelten und pinkfarbene Funken in alle Richtungen versprühten. »Warum kommst du zu mir? Warum bittest du mich um Hilfe? Abgesehen von der Tatsache, dass ich eine von Jasmines Freundinnen war?«
»Weil ich weiß, dass du im Technik-Club bist und deshalb das Passwort wahrscheinlich mühelos knacken kannst. Und weil ich etwas gegen dich in der Hand habe, was bedeutet, dass du den Mund halten wirst.«
Ihr Gesicht wurde hart. »Carson.«
Ich nickte. »Carson.«
Ich erklärte ihr nicht, was passieren würde, wenn sie mir nicht half. Das wusste Daphne nur zu gut. Das Gerücht, dass sie ausgerechnet auf Carson Callahan stand, würde sich wie ein Lauffeuer an der Schule verbreiten. Es wäre schon nach fünf Sekunden wie ein Virus überall, und dann wäre sie die Lachnummer der Schule. Zumindest für diese Woche.
Sie seufzte. »Was soll ich tun, Gwen?«
»Komm nach der letzten Stunde zu meinem Zimmer. Hilf mir, das Passwort von ihrem Computer zu knacken, und dann musst du nie wieder mit mir reden.«
»Und du wirst es niemandem erzählen?«, fragte sie. »Das mit Carson?«
Ich schüttelte den Kopf. »Keiner Menschenseele.«
Daphne starrte mich an, als versuche sie, aus meinem Gesicht zu lesen, ob ich die Wahrheit sagte oder nicht. Nach einer Weile traf die Walküre eine Entscheidung. Zumindest vermutete ich das, weil sie aufhörte, mit den Fingern auf den Tisch zu trommeln. Wieder seufzte sie, dann folgte ein Nicken.
»In Ordnung. Ich mache es. Nicht, weil ich Angst vor dir und dem Gerücht habe, das du in die Welt setzen könntest, sondern weil Jasmine meine Freundin war. Okay?«
»Okay.«
Ich schrieb den Namen meines Wohnheims und meine Zimmernummer auf einen Zettel und sagte ihr, sie solle mich dort später treffen.
»Ich kann es kaum erwarten«, murmelte Daphne, bevor sie den Zettel in ihre gigantische Tasche von Dooney & Bourke schob.
»Ja«, sagte ich gedehnt. »Es ist fast, als wären wir schon beste Freundinnen.«
Die Walküre warf mir noch einen bösen Blick zu, bevor sie sich die Tasche über die Schulter schwang und aus dem Speisesaal stiefelte.
Der Rest des Tages zog sich wie zähes Kaugummi, besonders Professor Metis’ Mythengeschichte. Ich starrte wieder aus dem Fenster und fragte mich, ob Daphne wirklich bei mir auftauchen und mir dabei helfen würde, Jasmines Computer zu knacken, oder ob die Walküre mich versetzen und stattdessen verpetzen würde …
»… in Anbetracht der schrecklichen Tragödie und des Schocks, den wir alle erfahren haben, dachte ich, wir könnten heute über die Schale der Tränen und ihre wichtige Rolle im Chaoskrieg sprechen.« Metis’ sanfte Stimme störte meine Überlegungen.
Ich riss den Kopf herum. Metis wollte über die Schale sprechen? Diejenige, die gestohlen worden war? Das könnte zur Abwechslung mal nützlich sein, im Gegensatz zu dem anderen Zeug, über das sie sich ständig unendlich lange ausließ. All dieses Gerede über Götter und Göttinnen und Krieger-Wunderkinder, das ich ihr nicht wirklich abnahm. Zumindest hatte ich es vor dieser Woche nicht geglaubt. Jetzt war ich mir da nicht mehr so sicher.
Ich war nicht die Einzige, die plötzlich mehr Interesse zeigte. Alle setzten sich aufrechter hin und sahen Professor Metis an.
Sie wies uns an, das Buch auf Seite 379 aufzuschlagen. Ich blätterte zur richtigen Stelle, und da war es – ein Bild der Schale der Tränen, dieselbe Schale, die Nickamedes mir in der Bibliothek gezeigt hatte. Sie sah genauso aus wie in meiner Erinnerung. Rund, braun, langweilig, unscheinbar. Sie wirkte ganz gewöhnlich, nicht wie ein mächtiges Artefakt, das einen Mord wert war.
»Loki war schon immer ein Schelmengott, der seinen Mitgöttern und den Sterblichen gleichermaßen Streiche spielte. Aber irgendwann verwandelte sich sein Hang zum Unsinn in Bosheit, und seine Streiche wurden grausam. Unter anderem war Loki für den Tod von Balder, dem nordischen Gott des Lichts, verantwortlich. Loki hat einen anderen Gott ausgetrickst, sodass dieser einen Mistelspeer auf Balder warf. Der Speer durchbohrte Balders Herz und brachte ihn um«, erklärte Metis. »Als Teil seiner Bestrafung für diese Tat und andere Verbrechen wurde Loki unter einer riesigen Natter, also einer Schlange, angekettet, die ständig Gift auf sein Gesicht tropfen ließ. Eine sehr schmerzhafte Form der Folter. Loki sollte dort für alle Ewigkeit bleiben – weggesperrt, damit er nie wieder
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