Frostkuss
sich darauf ausstreckte und dann die Schale der Tränen mitten auf ihre Brust stellte. Genau wie Jasmine befohlen hatte, verschüttete sie nicht einen einzigen Tropfen.
Aus den Tiefen ihres scharlachroten Umhangs zog Jasmine einen Dolch mit einem Rubin im Knauf. Auch ihn erkannte ich. Es war derselbe, den ich an dem Abend ihres angeblichen Todes auf dem Boden der Bibliothek gesehen hatte. Jetzt wusste ich auch, warum der Dolch nicht mit Blut besudelt gewesen war – die Blutlachen waren eigentlich Illusionen gewesen.
Mein Hirn fing wieder an zu arbeiten, und endlich ging mir auf, was sie mit dem Dolch vorhatte. Sie wollte ihre beste Freundin ihrem finsteren Gott opfern. Jasmine wollte Morgan tatsächlich direkt vor meinen Augen umbringen, und es gab nichts, was ich dagegen tun konnte.
»Stopp!«, schrie ich und trat vor. »Geh weg von ihr!«
Jasmine warf mir über die Schulter einen Blick zu und schnaubte herablassend.
»Töte sie«, befahl sie dann dem Pirscher, bevor sie sich wieder Morgan zuwandte.
Die Kreatur leckte sich die Lefzen und sprang auf mich zu.
Bevor ich Morgan retten konnte, musste ich mich selbst vor dem Pirscher retten.
Ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, was ich tat, also warf ich das Buch in meiner Hand nach ihm. Und ich hatte Glück, denn der dicke Band traf die Kreatur voll auf der Nase, ließ sie kurz zögern und brachte sie für einen Moment aus dem Gleichgewicht. Ich tauchte unter den nächstgelegenen Tisch, und das Monster landete auf der Tischplatte statt auf mir.
Der Pirscher vergrub die Klauen im Holz und zerfetzte es, als bestände es aus Zahnstochern. Ich kroch unter dem zusammenbrechenden Tisch heraus, kämpfte mich auf die Beine und rannte auf die offen stehende Doppeltür zu. Aber der Pirscher war schneller als ich. Mit einem einzigen, mächtigen Sprung segelte er über meinen Kopf hinweg, landete vor mir und schnitt mir damit den Fluchtweg ab.
Sofort wich ich zurück. Der Pirscher fauchte und fing wieder an, mich langsam zu umschleichen. Anscheinend genoss er das Spiel der großen, großen Katze mit der kleinen, kleinen Maus.
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Jasmine sich von Morgan abwandte, um mich anzusehen.
»Noch mal wirst du nicht entkommen«, sagte sie. »Dieser Pirscher ist keine Illusion, und der Spartaner ist nicht in der Nähe, um dich schon wieder zu retten.«
»Und da liegst du falsch«, ertönte eine andere Stimme.
Logan Quinn stand im Eingang zur Bibliothek. Er trug immer noch seinen Smoking, aber irgendwann zwischendurch hatte er sich zwei Accessoires geholt – einen Schild und einen Speer. Der silberne Schild war an seinem linken Arm befestigt, während er den Speer in der freien rechten Hand hielt. Irgendwie sahen die Waffen an ihm passend aus, als gehörten sie zu ihm und nur zu ihm allein. Ich dachte an das, was Daphne darüber gesagt hatte, warum die anderen Schüler hier waren. Logan kannte sein Schicksal als Spartaner, als Krieger. Ich konnte nur hoffen, dass er nicht heute Nacht seinen Tod finden würde.
Der Pirscher fauchte, sobald er Logan sah, weil er ihn anscheinend als die wahre Bedrohung erkannte. Der Spartaner hob den Schild, und tiefe Ruhe breitete sich in seinem Gesicht aus. Er würde nicht vor dem Pirscher fliehen – er wollte mit ihm auf Leben und Tod kämpfen, wie er es bereits einmal getan hatte. Nur war das Wesen dieses Mal keine Illusion. Irgendwoher wusste ich, dass diese Tatsache es noch größer, stärker und tödlicher machte.
Nach einem Moment glitt Logans eisblauer Blick zu mir. »Gwen, los! Hol Hilfe …«
Mehr bekam Logan nicht heraus, bevor sich der Pirscher auf ihn stürzte.
Statt zu tun, worum er mich gebeten hatte, hob ich das Buch auf, das ich vorhin nach dem Pirscher geworfen hatte, und rannte zurück in die Mitte der Bibliothek. Dort stand Jasmine immer noch mit erhobenem, glitzerndem Dolch über Morgan. Auch wenn ich nichts lieber getan hätte, als wegzulaufen, Professor Metis zu finden und ihr die ganze kranke Geschichte zu erzählen, ich wusste genau, dass Jasmine Morgan töten und ihr bizarres Ritual zu Ende bringen würde, wenn ich das tat. Meine Mom war als Polizistin nie vor einem Kampf weggelaufen, und ich würde es ebenso wenig tun.
Jasmine sah mich kommen, trat einen Schritt von Morgan zurück und richtete den Dolch auf mich. Nicht gut. Aber ich hatte nicht vor, jetzt einen Rückzieher zu machen. Nach allem, was ich wusste, würde Jasmine den Dolch werfen, sobald ich ihr den Rücken
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