Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Frostnacht

Frostnacht

Titel: Frostnacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Estep
Vom Netzwerk:
Gesamteindruck erinnerte mich an das Bettelarmband, das Carson Daphne vor einer Weile geschenkt hatte.
    Das Armband berührte meine nackte Haut, und ich wartete darauf, dass meine Psychometrie sich einschaltete – doch das geschah nicht. Tatsächlich fing ich überhaupt keine großen Schwingungen von dem Armband auf – nur dieselbe beruhigende, freundliche Ausstrahlung, die auch Eir selbst zu eigen war.
    Neugierig hob ich eine der Blumen an. Sie war klein, silbern und eher ein Blatt als eine Blüte, doch ich erkannte die Form. Ich hob den Blick. Die Blätter passten genau zu denen, die auf Nikes Kopf ruhten. Lorbeer – das Symbol des Sieges.
    »Lorbeer ist eine eigenartige Pflanze«, sagte Eir. »Und silberner Lorbeer ist außerordentlich selten. Ich bin die Einzige, die ihn noch anpflanzt, doch selbst das ist so gut wie vergessen – genauso wie seine Eigenschaften. Auch die Mistel ist sehr mächtig, obwohl die Menschen sie heutzutage scheinbar nur noch als Vorwand zum Küssen verwenden.«
    Die Göttin zog eine Grimasse, als gefiele ihr diese Vorstellung gar nicht, dann zögerte sie.
    »Und welche Eigenschaften wären das?«, fragte ich, da es schien, als wollte sie, dass ich etwas sagte.
    »Silberner Lorbeer kann eingesetzt werden, um noch die schwerwiegendsten Wunden zu heilen«, sagte Eir. »Oder um den mächtigsten Gegner zu töten. In manchen Fällen kann silberner Lorbeer sogar die Götter selbst zerstören.«
    Mir stockte der Atem, und ich packte das silberne Blatt so fest, dass sich die Metallränder in meine Haut gruben. Sagte sie – meinte sie – konnte ich eventuell Loki mit den Lorbeerblättern töten ?
    Als Nike mir die Artefakte in dem Fresko an der Decke der Bibliothek der Altertümer gezeigt hatte, hatte ich gedacht, ich hielte einen silbernen Pfeil oder Speer in der Hand – irgendeine Waffe, die mir dabei half, den bösen Gott zu töten. Doch was, wenn ich dieses Armband gesehen hatte? Was, wenn es zumindest einen Teil der Antwort lieferte? Ich sah zu Nike, und die Göttin nickte, als wüsste sie, was ich gerade dachte. Wahrscheinlich wusste sie es tatsächlich. Wie immer.
    »Ein weiterer, interessanter Aspekt des silbernen Lorbeers ist, dass seine Macht zur Heilung oder Zerstörung einzig vom Willen und Vorsatz ihres Benutzers abhängt«, sprach Eir weiter. »Also bedenke deine Handlungen sorgfältig, Gwendolyn Cassandra Frost. Denn deine Wahl wird uns alle beeinflussen.«
    Ihr Blick bohrte sich in meinen, und sie hielt mir die Hand entgegen, als wollte sie sich von mir verabschieden. Ich zögerte, dann berührte ich kurz ihre Finger. Für einen Moment umhüllte mich ihre Macht, und ich spürte ihre wunderbare Güte allen Kreaturen gegenüber, ob groß oder klein, ihre Liebe zu den Greifen und ihre Freude, wenn Sterbliche ihre Wildblumen dazu einsetzten, die Kranken und Verwundeten zu heilen.
    Außerdem fühlte ich ihre absolute Unbarmherzigkeit.
    Wie der Sieg konnte auch die Gnade gleichzeitig groß und schrecklich sein. Gnade zu schenken, zu akzeptieren, zurückzuweisen, zurückzuhalten – all das hatte einen Preis, den immer jemand zahlen musste. In diesem Moment verstand ich, dass Eir auf ihre eigene Art genauso kalt, schrecklich, schön und mächtig war wie Nike – wie alle Götter und Göttinnen, inklusive Loki.
    Dann lösten sich Eirs Finger von meinen, und die Gefühle verschwanden, obwohl ich immer noch die beruhigenden, freundlichen Schwingungen des Armbands an meinem Handgelenk empfing. Ich starrte auf die Metallblätter an der Kette hinab, die eher einer Ranke ähnelte, und fragte mich, ob wohl Eir Nike den Lorbeerkranz gegeben hatte, den die Göttin des Sieges trug. Außerdem fragte ich mich, was ich mit dem silbernen Lorbeer tun sollte, den ich jetzt besaß. Wie konnten Blätter von so schlichtem Aussehen irgendwen heilen? Oder einen Gott umbringen? Wie musste ich sie verwenden? Waren sie der Schlüssel dazu, Loki zu vernichten und den Chaoskrieg zu beenden? Oder dienten sie einem anderen Zweck? Und wofür stand der Mistelzweig, wenn er denn überhaupt eine Bedeutung hatte?
    Diese Fragen und noch Dutzende weitere lagen mir auf der Zunge, doch Eir kehrte bereits mit dem Greif an ihrer Seite in die Mitte der Lichtung zurück. Wieder beugte die Göttin den Kopf, und die Wildblumen strebten ihr entgegen. Ein leises Lächeln erschien auf Eirs Gesicht, während sie ihnen und dem Greif etwas zumurmelte.
    »Komm«, sagte Nike. »Sie hat dir das einzige Geschenk gemacht, das sie dir

Weitere Kostenlose Bücher