Frostnacht
das getrocknete Blut von Logans Wunde. Der Rock hatte einen hässlichen Riss in seiner Seite hinterlassen. Wahrscheinlich hätte die Wunde genäht werden müssen, doch das konnte ich nicht. Allerdings wirkte die Verletzung nicht entzündet. Vielleicht würde Logan sich bis zum Morgen ein wenig erholen – zumindest genug, um den Rest des Weges zu bewältigen.
Die letzten Reste meiner Kleidung dienten als Verband, dann deckte ich den Spartaner mit seiner restlichen Kleidung zu und stellte sicher, dass er auf seinem Bett aus Kiefernnadeln und Heu bequem lag. Außerdem zog ich meinen Schlafsack aus dem Rucksack und breitete ihn auch über Logan aus. Logan verschlief alles. Ich strich ihm das schwarze Haar aus der Stirn, dann lehnte ich mich vor und küsste ihn auf die Wange. Logan seufzte, doch er wachte nicht auf.
Ich löste die Scheide von meiner Hüfte und lehnte Vic so an die Felswand, dass er die gesamte Höhle im Blick hatte und Wache halten konnte. Dass ich von Greifen umgeben war, hieß noch lange nicht, dass Vivian und Agrona nicht mit weiteren Schnittern und Schwarzen Rocks auftauchen konnten.
»Schlaf ein bisschen«, sagte Vic, dem auffiel, wie absolut erschöpft ich war. »Ich werde heute Nacht Wache halten, nur für den Fall, dass eines dieser überdimensionalen Fellknäuel Ärger macht.«
Diese Aussage entlockte dem ranghöchsten Greif ein Schnauben. Doch nach und nach legten sich die Kreaturen um mich herum auf den Boden, sodass ihre Körperwärme sich mit der Wärme der heißen Quellen verband.
Es gab nichts anderes zu tun, als darauf zu warten, dass der Sturm vorüberzog und der Morgen anbrach. Also legte ich mich hin und glitt in den Schlaf, während die Greifen mich wärmten.
Ich fiel in tiefen, traumlosen Schlaf, und irgendwann wachte ich wieder auf.
Zumindest ging ich davon aus, dass ich wach war – bis ich verstand, dass ich mitten in der Höhle stand und auf meinen eigenen, schlafenden Körper hinabsah, der neben Logan lag. Ich blinzelte und blinzelte, aber das Bild veränderte sich nicht. Ich drehte mich im Kreis, aber die Greifen schliefen ebenfalls alle. Ich war scheinbar die Einzige, die wach war. Es fühlte sich nicht an wie ein weiterer Albtraum. Es wirkte … real.
»Gute Güte«, murmelte ich und lieh mir damit eine Phrase von Vic.
Ich sah mich in der Höhle um, aber alles war wie vorher. Die Greifen lagen in einem Kreis um mich herum, die Quelle strahlte Wärme aus, in den Wänden glühten diese seltsamen, goldenen Felsen. Schließlich blickte ich zum Ausgang der Höhle. Für einen Moment sah ich nur eine weiße Wand, weil der Schneefall unverändert anhielt. Doch dann teilten sich die Flocken, als hätte der Wind sie wie einen Vorhang auseinandergeschoben, und eine Gestalt erschien vor der Höhle.
Ihr langes, weißes Kleid hatte dieselbe Farbe wie die Schneeflocken, die sie umtanzten, während die Locken, die um ihren Kopf lagen, wie Bronze glänzten. Flügel erhoben sich über ihren Schultern. Sie besaßen dasselbe Weiß wie der Schnee, doch die weichen Federn bewegten sich nicht trotz des heftigen Windes. Die Gestalt stand einfach mit vor dem Körper verschränkten Händen da, als warte sie geduldig darauf, dass ich sie bemerkte. Sie suchte meinen Blick, und ich sah die ungewöhnliche, leuchtende Farbe ihrer Augen – alle Färbungen von Purpur und Grau vermischt, um sich zu dem kräftigen Farbton der Dämmerung zu verbinden.
Nike, die griechische Göttin des Sieges, blickte mich noch einen Moment an, dann drehte sie sich um und trat außer Sichtweite. Nun, wenn die Göttin nicht herkam, würde ich wohl zu ihr rausgehen müssen.
Ich schlich auf Zehenspitzen zwischen den schlafenden Greifen hindurch, obwohl das wahrscheinlich gar nicht nötig war. Immerhin … na ja … befand ich mich in dieser seltsamen Traumwelt und sie nicht. Zumindest glaubte ich das, da ich wach war und sie nicht. Oder ich träumte und sie nicht. Oder was auch immer genau ich tat, was sie nicht taten. Ich schüttelte den Kopf und verdrängte diese wirren Gedanken. Wann immer ich darüber nachdachte, wie real oder nicht real diese traumgleiche Welt war, bekam ich Kopfweh.
Ich erreichte den Höhleneingang. Zu meiner Überraschung hatte der Schneefall aufgehört. Auf dem Boden allerdings lag fast ein halber Meter Schnee wie Zuckerguss auf einem Kuchen. Ich trat nach draußen und stellte fest, dass ich nicht fror, obwohl ich den Schutz der Höhle und die Wärme der Greifen hinter mir gelassen
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