Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Frostnacht

Frostnacht

Titel: Frostnacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indridason
Vom Netzwerk:
überlegte, ob es Niran sein könnte. Das Gesicht konnte er nicht sehen. Die Gestalt war in eine Windjacke gekleidet und trug eine Baseballkappe mit großem Schirm. Sie schloss die Tür sorgfältig hinter sich und machte sich auf den Weg in Richtung Innenstadt. Erlendur ging hinterher und war sich nicht sicher, wie er sich verhalten sollte. Er sah jetzt, dass die Gestalt ein Tuch vor das Gesicht gebunden hatte, sodass nur die Augen zu sehen waren. Sie hielt etwas in der Hand, von dem Erlendur nicht erkennen konnte, was es war.
    Die Gestalt marschierte mit hochgezogenen Schultern geradewegs in Richtung Zentrum. Die Restaurants und Vergnügungslokale hatten am Samstagabend alle geöffnet, und trotz der Wettervorhersage waren zahlreiche Menschen unterwegs. Als die Gestalt ausbreitete, was sie in der Hand hielt, erkannte Erlendur, dass es sich um einen großen, schwarzen Plastiksack handelte. Sie ging zu einem Abfallbehälter und sah hinein, wühlte ein wenig darin herum und setzte ihren Weg dann fort. Zwei Bierflaschen unter einer Bank wanderten in den Sack, dann bewegte sie sich weiter zum nächsten Abfallbehälter. Erlendur beobachte die Szene. Die Person sammelte also leere Dosen und Flaschen. Sie ging so geräuschlos und zielstrebig zu Werke, als sei es eine gewohnte Tätigkeit, und sie verhielt sich so unauffällig wie möglich. Niemand nahm Notiz von ihr.
    Erlendur beobachtete die Gestalt auf ihrem Weg durch die Innenstadt eine ganze Weile. Der Plastiksack füllte sich rasch. Erlendur betrat einen Kiosk und kaufte zwei Sprudeldosen. Als er wieder auf der Straße stand, leerte er sie in den Rinnstein und näherte sich damit der Gestalt, die bei einem Müllbehälter in einer kleinen Seitengasse am Austurvöllur stehen geblieben war.
    »Hier sind noch zwei«, sagte Erlendur und streckte die Dosen vor.
    Die Gestalt blickte ihn verwundert an. Das Tuch verhüllte das Gesicht, und der Schirm der Baseballmütze reichte bis zu den Augen. Die Gestalt nahm die Dosen zögernd in Empfang, steckte sie in den Sack und setzte sich wortlos wieder in Bewegung.
    »Ich heiße Erlendur«, sagte er. »Kann ich einen Augenblick mit dir reden?«
    Die Gestalt blieb stehen und sah Erlendur forschend an.
    »Ich würde gern mit dir reden, wenn du nichts dagegen hast«, sagte Erlendur.
    Die Gestalt wich vor ihm zurück und antwortete nicht.
    »Keine Angst«, sagte Erlendur und trat näher.
    Daraufhin machte sein Gegenüber Anstalten zur Flucht, wurde aber durch den prallvollen Sack behindert. Erlendur gelang es, nach der Windjacke zu greifen. Die Gestalt versuchte, mit dem Sack auszuholen, um Erlendur zu treffen und sich loszureißen, aber der hielt sie mit beiden Händen fest. Die Gestalt schlug um sich, aber vergebens. Erlendur sprach in ruhigem Ton auf sie ein.
    »Ich versuche, euch zu helfen«, sagte er. »Ich muss mit dir reden. Verstehst du mich?«
    Er erhielt keine Antwort.
    »Verstehst du Isländisch?«, fragte Erlendur.
    »Ich möchte nicht, dass du etwas Unüberlegtes tust«, sagte er. »Ich möchte dir helfen.«
    Wieder kam keine Antwort.
    »Ich lass dich jetzt los«, sagte Erlendur. »Lauf bitte nicht weg. Ich muss mit dir reden.«
    Nach und nach lockerte er seinen Griff und ließ die Gestalt schließlich los, die sofort losrannte. Erlendur lief ihr ein paar Schritte quer über den Austurvöllur hinterher. Er überlegte, ob er es mit dieser leichtfüßigen Person aufnehmen konnte, als sie ihre Schritte verlangsamte und schließlich bei der Statue von Jón Sigurðsson stehen blieb. Sie drehte sich um und sah zu Erlendur hinüber, der sich nicht vom Fleck gerührt hatte und abwartete. Geraume Zeit verging, bevor die Gestalt sich wieder in Bewegung setzte und langsam auf ihn zukam. Dabei nahm sie die Baseballkappe ab, und schwarzes, dichtes Haar kam zum Vorschein, und als sie Erlendur erreicht hatte, riss sie sich das Tuch vom Gesicht.
    Hallur saß zwischen seinen Eltern und behauptete, nichts über das Schnitzmesser zu wissen, das Anton ihm angeblich geschenkt hatte. Name und Adresse hatten sie dem Schülerverzeichnis entnommen. Er gab zu, Doddi und Anton zu kennen, sie waren gleich alt, aber nicht in derselben Klasse. Er kannte sie nicht besonders gut, weil er noch nicht lange in dem Viertel lebte. Seine Familie war vor etwa einem halben Jahr in das Einfamilienhaus gezogen. Hallur war Einzelkind. Er war eher klein und hatte widerspenstiges, dunkles Haar, das ihm über die Augen reichte. Wenn er nichts mehr sehen konnte, warf er in

Weitere Kostenlose Bücher