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Frühe Erzählungen 1893-1912

Frühe Erzählungen 1893-1912

Titel: Frühe Erzählungen 1893-1912 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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mich nicht enthalten konnte, ihre Hand zu ergreifen und sie stumm zu drücken.
    Ich habe mich damals an Hofmanns Eltern brieflich mit der {61} Bitte gewandt, mich über den Aufenthaltsort ihres Sohnes zu benachrichtigen. Ich erhielt eine Adresse in Südtirol, und mein Brief, der dorthin an ihn abging, gelangte an mich zurück mit der Bemerkung, der Adressat habe, ohne ein Reiseziel anzugeben, den Ort schon wieder verlassen.
    Er wollte von keiner Seite behelligt sein, er war allem entflohen, um irgendwo in aller Einsamkeit zu sterben. Gewiß, zu sterben. Denn nach alledem war es mir zur traurigen Wahrscheinlichkeit geworden, daß ich ihn nicht wiedersehen würde.
    War es nicht klar, daß dieser hoffnungslos kranke Mensch jenes junge Mädchen mit der lautlosen, vulkanischen, glühend sinnlichen Leidenschaft liebte, die den gleichartigen ersten Regungen seiner früheren Jugend entsprach? Der egoistische Instinkt des Kranken hatte die Begier nach der Vereinigung mit blühender Gesundheit in ihm entfacht; mußte diese Glut, da sie ungestillt blieb, seine letzte Lebenskraft nicht schnell verzehren?
    Und es vergingen fünf Jahre, ohne daß ich ein Lebenszeichen von ihm erhielt, – aber auch ohne daß die Nachricht von seinem Tode mich erreichte!
    Im vergangenen Jahre nun hielt ich mich in Italien auf, in Rom und Umgebung. Ich hatte die heißen Monate im Gebirge verlebt, war Ende September in die Stadt zurückgekehrt, und an einem warmen Abend saß ich bei einer Tasse Thee im Caffé Aranjo. Ich blätterte in meiner Zeitung und blickte gedankenlos in das lebendige Treiben, das in dem weiten, lichterfüllten Raume herrschte. Die Gäste kamen und gingen, die Kellner eilten hin und her, und dann und wann tönten durch die weit offenen Thüren die langgezogenen Rufe der Zeitungsjungen in den Saal hinein.
    Und plötzlich sehe ich, wie ein Herr von meinem Alter sich langsam zwischen den Tischen hindurch und einem Ausgang {62} zu bewegt … Dieser Gang –? Aber da wendet er auch schon den Kopf nach mir, hebt die Augenbrauen und kommt mir mit einem freudig erstaunten »Ah!?« entgegen.
    »Du hier?« Wir riefen es wie aus einem Munde, und er fügte hinzu:
    »Also wir sind beide noch am Leben!«
    Seine Augen schweiften ein wenig ab dabei. – Er hatte sich in diesen fünf Jahren kaum verändert; nur daß sein Gesicht vielleicht noch schmaler geworden war, seine Augen noch tiefer in ihren Höhlen lagen. Dann und wann atmete er tief auf.
    »Du bist schon lange in Rom?« fragte er.
    »In der Stadt noch nicht lange; ich war ein paar Monate auf dem Lande. Und Du!«
    »Ich war bis vor einer Woche am Meer. Du weißt, ich habe es den Bergen immer vorgezogen … Ja, ich habe, seit wir uns nicht sahen, ein gutes Stück Erde kennen gelernt.«–
    Und er begann, während er neben mir ein Glas sorbetto schlürfte, zu erzählen, wie er diese Jahre verbracht hatte: Auf Reisen, immer auf Reisen. Er hatte in den Tiroler Bergen gestreift, hatte ganz Italien langsam durchmessen, war von Sizilien nach Afrika gegangen und sprach von Algier, Tunis, Ägypten.
    »Schließlich bin ich einige Zeit in Deutschland gewesen«, sagte er, »in Karlsruhe; meine Eltern wünschten dringend, mich zu sehen und haben mich nur ungern wieder ziehen lassen. Jetzt bin ich seit einem Vierteljahre wieder in Italien. Ich fühle mich im Süden zu Hause, weißt Du. Rom gefällt mir über alle Maßen! …«
    Ich hatte ihn noch mit keinem Worte nach seinem Befinden gefragt. Jetzt sagte ich:
    »Aus alledem darf ich schließen, daß Deine Gesundheit sich bedeutend gekräftigt hat?«
    {63} Er sah mich einen Augenblick fragend an; dann erwiderte er:
    »Du meinst, weil ich so munter umherwandere? Ach, ich will Dir sagen: Das ist ein sehr natürliches Bedürfnis. Was willst Du? Trinken, Rauchen und Lieben hat man mir verboten, – irgend ein Narkotikum habe ich nötig, verstehst Du?«
    Da ich schwieg, fügte er hinzu:
    »Seit fünf Jahren –
sehr
nötig.« –
    Wir waren bei dem Punkte angelangt, den wir bis dahin vermieden hatten, und die Pause, die eintrat, redete von unserer beiderseitigen Ratlosigkeit. – Er saß gegen das Sammetpolster zurückgelehnt und blickte zum Kronleuchter empor. Dann sagte er plötzlich:
    »Vor allem, – nicht wahr, Du verzeihst mir, daß ich so lange nichts habe von mir hören lassen … Du verstehst das?«
    »Gewiß!«
    »Du bist über meine Münchener Erlebnisse orientiert?« fuhr er in beinahe hartem Tone fort.
    »So vollkommen wie

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