Frühlingserwachen (Winterwelt Trilogie) (German Edition)
als solches erkannt. Sie hatten schon viel über ihn gehört und zählten seine Geschichte zu ihren Lieblingserzählungen.
Seit jenem Abend hatten sie das Dorf nicht mehr verlassen und wurden zu den Einwohnern gezählt. Auch hatten sie stets bei allerhand Arbeit geholfen und neuen Wind in diesen Teil der Welt gebracht. Wie viele andere fürchteten auch sie sich vor der Bedrohung eines heraufziehenden Krieges. Doch die Sympathie für ihre neu gewonnen Freunde war größer als die Angst vor der Gefahr. Deshalb waren sie geblieben.
Arrow hätte sich damals so sehr gewünscht, dass Neve und Dewayne bei dem Fest dabei gewesen wären und alles selbst miterlebt hätten. Kurz vor dem Ende der Herbstgleiche hatte sie ein paar Bläulinge ausgesandt, die ihrem Bruder und seiner Frau die Einladung zu der Feierlichkeit überbringen sollten. Dabei hatte sie allerdings nicht bedacht, dass die strahlend blauen Schmetterlinge mit dem Wintereinbruch in Kältestarre verfallen. Am Tage nach dem Erntedankfest hatte sie alle Bläulinge unweit des Schlosses im Schnee wieder gefunden. Zu Arrows Freude hatten alle die schlecht durchdachte Anweisung überlebt. Allerdings waren sie nach dem Auftauen ganz nervös gegen die Fenster geflattert – hatten sie doch noch immer einen Auftrag, den es zu erfüllen galt.
„Übrigens wäre es nett, wenn du mich nachher an die armen Schmetterlinge erinnern könntest“, bat Arrow den Elfen. „Ich würde sie gern noch einmal für einen Moment aus der Kältestarre holen, damit sie dir die Botschaft überbringen können. Dann können sie endlich in Ruhe schlafen und im nächsten Jahr erholt in den Frühling starten.“
„Das wird nicht nötig sein“, bemerkte Dewayne verärgert. „Seit gestern sind sie wach und haben mich die ganze Nacht zugequasselt. Ich musste mich auf den Fußboden legen, damit Neve endlich etwas Schlaf finden konnte.“
„Die ganze Nacht?“, fragte Arrow überrascht. „Aber es waren allerhöchstens zwei Dutzend Schmetterlinge. Wenn dir jeder von ihnen einmal die Nachricht überbringt, müsstest du mit dem nächsten Augenaufschlag wieder deine Ruhe haben.“
„Das ist richtig“, bemerkte der Elf und kräuselte seine Lippen. Dann fügte er vorwurfsvoll hinzu: „Allerdings sind sie hyperaktiv, wenn du sie mit einer Aufgabe überwintern lässt. Sobald sie dann erwachen, quatschen sie dich zu, bis sie vor Erschöpfung zusammenbrechen.“
„Oh ...“, bemerkte Arrow peinlich berührt.
„Ich war kurz davor, die kleinen Biester aus dem Fenster zu werfen“, fuhr Dewayne verärgert fort. „Einer fleißigen Wichteldame namens Agnes haben sie es zu verdanken, dass ihnen dieses Schicksal erspart geblieben ist. Plötzlich tauchte Agnes unverhofft auf und überreichte mir – woher auch immer – einen winzig kleinen Beutel mühsam zusammengesuchtes Schlafpulver. Das allein hat den kleinen Quälgeistern das Leben gerettet.“
Tief atmete der Elf ein, um die Fassung wiederzugewinnen. Dann packte er Arrow ängstlichen Blickes bei den Schultern und zwang sie, ihm in die Augen zu sehen. „Arrow, was ist mit dir los?“
Verlegen versuchte sie, seinen Blicken auszuweichen, schaffte es jedoch nicht. „Ich weiß gar nicht, was du meinst“, antwortete sie.
Wieder fixierte Dewayne ihre Augen ganz genau. „Ich bin dein Bruder“, sagte er. „Mir kannst du nichts vormachen. Du strahlst so viel Rastlosigkeit aus, dass du eine ganze Herde Faultiere im Umkreis von drei Tagesreisen aufscheuchen und verjagen könntest.“
Arrow runzelte die Stirn. „Ich dachte, Faultiere wären nicht aus der Ruhe zu bringende Einzelgänger?“
Dewayne rollte mit den Augen. „Das ist doch die Ironie daran ...“
„Das verstehe ich nicht“, entgegnete sie verwirrt.
Der Elf wandte sich von ihr ab und fuhr sich mit der Hand durch sein unbezähmbares Haar. „Es ist noch immer wegen Melchior, richtig?“
Erschrocken senkte Arrow den Blick. Während jedes Glück aus ihren Augen schwand, suchte sie in ihrem Kopf nach einer Ausrede oder vielmehr Notlüge. Denn sie wollte ihrem Bruder auf keinen Fall die Wahrheit sagen.
Arrow ging es schlecht. Viele Nächte schon hatte sie nicht mehr richtig schlafen können. Sobald sich das Gefühl der Entspannung bei ihr einschlich, tauchten die Bilder erneut in ihrem Kopf auf. Auch nach all den Monaten und glücklichen Ereignissen wurde sie noch immer von grauenvollen Schuldgefühlen gequält. Eine Besserung war nicht in Sicht. Stattdessen wurden sie zunehmend
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