Frühlingserwachen (Winterwelt Trilogie) (German Edition)
stärker. So oft schon hatte sie dieses eine schreckliche Erlebnis durchlebt. Inzwischen wurde sie von den Erinnerungen sogar mehrmals täglich heimgesucht.
Anfangs hatte sie probiert, den quälenden Träumen mit Schlafpulver zu entgehen. Mit Unmengen davon hatte sie sich damals den unbarmherzigen Erinnerungen entziehen wollen. Allerdings hatte das dazu geführt, dass Arrow nach dem Aufwachen eine immer größer werdende Leere in sich gespürt hatte, denn das Schlafpulver hatte nach einer gewissen Zeit die unerfreuliche Nebenwirkung, einen traumlosen Schlaf herbeizuführen. Erlebtes konnte Arrow während des Schlafens nicht mehr verarbeiten und diese Wirkung hatte sie verändert. Nach einer Weile war sie nicht viel mehr als ein Schatten ihrer selbst gewesen. Sie hatte nur noch geschlafen, um nicht mit den quälenden Erinnerungen konfrontiert werden zu müssen. Und wenn sie doch mal wach gewesen war, hatte man sie kaum ansprechen können.
Anne hatte danach die Herstellung von Schlafpulver im Dorf verboten und die Wichtel hatten dafür Sorge zu tragen gehabt, jedes noch so kleine Körnchen, das sich im Umkreis von zwei Tagesreisen befunden hatte, zusammenzukratzen und weit weg zu schaffen. Dadurch konnte Arrow zwar nicht besser schlafen, doch sie hatte sich mit der Zeit erholt.
„Erspar dir die Arbeit, mir etwas vormachen zu wollen!“, ermahnte er Arrow. „Agnes hat mir alles erzählt.“
Betrübt senkte Arrow den Blick. „Dann bist du in der letzten Nacht wohl so oder so nicht zum Schlafen gekommen?“, fragte sie, obwohl sie die Antwort bereits kannte.
Dewayne nickte. „Ich habe viel nachgedacht“, entgegnete er.
Stille erfüllte den Moment. Arrow wusste nicht, was sie sagen sollte, und Dewayne schien so viel sagen zu wollen, dass er nicht wusste, wo er anfangen sollte.
„Arrow“, begann er zögerlich, „ich weiß, wie schmerzlich das alles für dich ist, denn auch mir hat er die Welt bedeutet. Aber es ist an der Zeit, ihn loszulassen.“
„Ein guter Tipp“, bemerkte Arrow sarkastisch. „Und vielleicht kannst du mir auch gleich noch sagen, wie ich das anstellen soll.“
Sie war verärgert. Gute Ratschläge hatte sie in den letzten Monaten genug bekommen. Dabei hatten die meisten Leute nicht die geringste Ahnung, wovon sie redeten.
„Arrow, bitte! Du machst dich kaputt, wenn du weiter an ihm festhältst!“
Arrow bebte vor Zorn. Sie hatte große Mühe, die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. „Glaubst du denn, dass ich das nicht weiß? Ich weiß selbst am besten, was es mit mir anrichtet, doch ich habe es nicht unter Kontrolle. Wie Schatten verfolgen mich die Ereignisse jenen Tages, und sobald auch nur der geringste Sonnenstrahl in mein Gemüt schleicht, tauchen sie wie Aasgeier auf, um das Glück zu verschlingen.“
Gequält musterte Dewayne seine Schwester. Die Verzweiflung war Arrow durchaus anzusehen, doch der Elf hatte nicht die geringste Ahnung, wie er ihr helfen konnte.
„Arrow“, redete er auf sie ein, „du führst hier ein wundervolles Leben. Zusammen mit Freunden und einem Mann, der dich über alles liebt, hast du es geschafft, aus diesem heruntergekommenen Schloss einen verzauberten Ort zu machen. Durch deinen Mut sind wir nach all den Jahren an einem Punkt angelangt, an dem wir Verhandlungen über die Befreiung unseres Volkes führen. Durch die Erschaffung der Herbstgleiche wurden die verschiedenen Völker dieser Welt zusammengebracht. Das hat noch nicht einmal vor dem endlosen Winter funktioniert. Bedeutet dir das denn gar nichts? Gibt es nichts auf dieser Welt, das dich von deinem Leid erlösen und glücklich machen kann?“
Verständnisvoll schaute Arrow ihrem besorgten Bruder in die Augen. Mit einem müden Lächeln auf den Lippen strich sie ihm die Haarsträhnen aus dem Gesicht.
„Natürlich macht mich das alles glücklich – viel mehr noch, als es ein Betrachter wahrzunehmen vermag. Tatsache ist, dass es das Einzige ist, was mich noch am Leben hält.“
Erschrocken zuckte Dewayne zurück. „Weißt du, was du da redest?“, fuhr er sie entgeistert an. „Du bist meine Schwester und ich will, dass du glücklich bist, ohne dabei ans Überleben zu denken!“
„Glaubst du denn, dass ich das nicht auch will?“, entgegnete sie barsch.
„Warum lässt du es dann nicht einfach zu?“
Heftig schüttelte Arrow den Kopf. „Dewayne, ich habe es dir gerade eben erklärt – ich habe keine Kontrolle darüber. Obwohl er tot ist, gibt es noch immer etwas, das mich nicht
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