Frühlingserwachen (Winterwelt Trilogie) (German Edition)
Bäumen selbst ausging.
In der Befürchtung, dass ihre Angst ihr einen Streich spielen wollte, setzte sie sich in Bewegung. Dieser Platz war ihr nicht geheuer und schon bald wurde ihr klar, dass sich dieses seltsame Gefühl auf jeden Bereich des Waldes ausweitete. Zwar spürte sie keine absolute oder unmittelbare Gefahr, doch immerhin war sie von dem Unbekannten umgeben.
Arrow versuchte, sich auf das knautschende Geräusch ihrer Schritte im Schnee zu konzentrieren. Nebenbei summte sie eine Melodie, die ihr selbst ziemlich gruselig vorkam. Es war kein Lied, das sie kannte, sondern einfach nur etwas, das der Ablenkung dienen sollte. Wie alles an diesem seltsamen Ort verfehlte es seine eigentliche Wirkung.
Beunruhigt durchwühlte sie die Taschen ihres Mantels und zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier hervor. Die Wegbeschreibung, die Anne vor Arrows Abreise angefertigt hatte, wirkte auch jetzt noch genauso lächerlich und beschämend wie bei ihrem ersten Anblick. Kreuz und quer hatte sie einige hässliche Bäume skizziert und über dem Zielbaum, der mit einem grinsenden Gesicht versehen war, prangte ein dicker Pfeil.
„Was soll mir das denn bitteschön sagen?“, hatte Arrow ihre Großmutter mit einem Anflug von Spott gefragt.
„Na dort musst du hin“, hatte Anne ganz selbstverständlich geantwortet.
„Zu einem grinsenden Baum?“
„Er ist eben nett!“
Er ist eben nett … Das war die Antwort gewesen. Arrow hatte sich vertrauensvoll in die Hände der Wilden Jagd begeben, um meilenweit entfernt nach einem netten Baum zu suchen. Während sie darüber nachdachte, stellte sich ihr einmal mehr die Frage, warum sich die ganze Welt eigentlich über ihren Geisteszustand Gedanken machte. Vielleicht war es ja bedenklich, dass sie nach einer solchen Auskunft diese Reise überhaupt angetreten hatte. Doch viel mehr noch war sie davon überzeugt, das eigentliche Problem im Ursprung zu suchen. Niemand, der bei klarem Verstand ist, sollte seiner Enkelin raten, mit den gefährlichsten Dämonen überhaupt einen netten Baum am anderen Ende der Welt zu suchen. Das hörte sich nicht nur total bescheuert an – es war auch bescheuert!
Wütend zerknüllte Arrow den Zettel und ließ ihn wieder in ihrer Tasche verschwinden. Dann setzte sie ihren Weg fort. Das Flüstern war irgendwann verstummt und die Unbehaglichkeit einer entnervten Wut gewichen. Diese Bäume sahen alle gleich aus. Naja – vielleicht nicht unbedingt gleich. Sie unterschieden sich schon in Form und Größe und in allem, was Bäume nun einmal voneinander unterscheidet. Trotzdem sah da jetzt keiner in irgendeiner Weise besonders „nett“ aus …
Nach einigen Stunden des Umherirrens ließ Arrow sich für eine Pause an einem der Bäume nieder. Ihr taten die Füße weh, und außerdem hatte sie schon lange keine Nahrung mehr zu sich genommen. Nach der Begegnung mit Emily Jane war ihr der Appetit auf das Käsebrot deutlich vergangen und so hatte sie es unberührt wieder in die Tasche zu den anderen Broten gesteckt. Ihr war einfach nicht wohl bei dem Gedanken, in der Gegenwart eines kleinen Mädchens zu essen, das ihr unmittelbar zuvor noch erzählt hatte, dass sie vermutlich niemals das Gefühl des Sattseins verspürt hatte.
Nachdem Arrow das vormals verschmähte Käsebrot und ein weiteres Schinkenbrot verdrückt hatte, holte sie wieder den Zettel hervor, entknüllte ihn und betrachtete ihn abermals.
Suchend schaute sie sich um. Der Baum, an dem sie lehnte, schien recht nett zu sein. Er schubste sie nicht weg und störte auch sonst nicht beim Ausruhen.
Verärgert murmelte Arrow einige Flüche vor sich hin. Nach einem weiteren Griff in die Tasche zog sie einen Bleistift hervor und malte den anderen Bäumen auf dem Zettel grimmige Gesichter an. „Vielleicht kann ich sie ja jetzt besser voneinander unterscheiden“, grummelte sie griesgrämig. Dann setzte sie ihren Weg fort.
Während sie immer weiter lief, fluchte sie ununterbrochen. „Du kannst ja auch jemanden nach dem Weg fragen“, äffte sie Annes Worte nach. „Das funktioniert ja auch so fantastisch, wenn man außer einer Vielzahl von Bäumen nichts weiter zu sehen bekommt! Wenn ich hier jemals wieder herausfinden sollte, dann kann sie was erleben ... Einen netten Baum soll ich anhand einer beschämenden Kritzelei im verlassensten Teil dieser Welt suchen!“ Grimmig lachte Arrow auf. „Vielleicht kann ich ja einen der Bäume fragen, ob er den Weg kennt.“
Gereizt marschierte sie auf den erstbesten Baum
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