Frühlingserwachen (Winterwelt Trilogie) (German Edition)
ihr für den Bruchteil einer Sekunde ganz schwummrig wurde. Die vielen Geister um sie herum ließen sie immer angespannter werden. Und obwohl sie ohnehin schon unregelmäßig atmete, hielt sie einen Moment lang die Luft an. Das schrille Gekreische einer jungen Frau hallte durch das Dorf. Einer der Perchten hatte sie an ihren langen Haare gepackt und mit sich geschleift.
„Das ist Mrs. Simmons“, bemerkte Arrow schockiert. „Ich kenne diese Frau. Sie wohnt hier bei uns im Dorf.“ Mit Hilfe suchenden Blicken wandte sie sich an Frau Gaude. „Das muss ein Irrtum sein. Mrs. Simmons flechtet Körbe und ist bei allen Leuten sehr angesehen.“
Frau Gaude zog die Augenbrauen hoch. „Ach wirklich?“, fragte sie mit spöttischem Unterton. „Ich denke nicht, dass ihr Ansehen ihr dabei helfen wird, ihre gerechte Strafe zu umgehen.“
„Aber was hat sie denn getan?“, entgegnete Arrow entsetzt.
„Sie hat ihr Baby ertränkt“, antwortete Frau Gaude kühl, und ohne weiterer auf Arrow einzugehen, gab sie den Befehl zum Aufbruch.
Arrow warf noch einen letzten bestürzten Blick auf Mrs. Simmons. Dann setzte Whisper zum Trab an und ging nach wenigen Augenblicken zum Galopp über. Die Umgebung verschwamm vor Arrows Augen, doch die Schreie von Mrs. Simmons hallten grell in ihren Gedanken wider.
Wie ein gigantischer Wirbelsturm fegte die Wilde Jagd über das Land. Als sie die Hälfte der Strecke hinter sich gelassen hatten, legten sie eine Pause ein.
Ein normales Pferd hätte diese Entfernung in vier Tagen zurückgelegt, ein Salamanderross womöglich in der Hälfte der Zeit. Zusammen mit Whisper und Arrows Naturkräften war es leicht, das angestrebte Ziel bis zum Morgengrauen zu erreichen.
Am Rande eines Waldweges ließ Arrow sich an einem Baum nieder. Sie war vollkommen angespannt und das raubte ihr weit mehr Kraft als nur der wirbelnd schnelle Ritt.
Der Sockenmann ging Arrow auf die Nerven. Keine Sekunde ließ er von ihr ab. Ständig hatte er während der Reise die Zähne gefletscht und selbst jetzt, da er an einem Baum gekettet in sicherer Entfernung saß, knurrte er sie ständig an. Seine aufdringlichen Blicke stachen wie lästige Mückenstiche. Für sein ungehobeltes Verhalten bekam er gelegentlich von einem der Perchten eins übergebraten, doch das wirkte nur, bis er wenige Sekunden nach dem Schlag erneut wieder klar wurde.
Aufgebracht griff Arrow in ihre Tasche, holte ein Sockenknäul hervor und warf es dem dicken Mann an den Kopf. Als er registriert hatte, was da geflogen kam, war er plötzlich ganz aus dem Häuschen und stülpte sich die Socken mit einem überschwänglichen Grinsen über die Füße. Als Frau Gaude das bemerkte, rollte sie mit den Augen und zog ihm gewaltsam die Socken wieder aus. Dann knüllte sie sie zusammen, stopfte sie dem dicken Mann in den Mund und schnürte ihn wie ein kostbares Päckchen mit seiner Kette an den Baum. Nachdem sie ihm dann auch noch einen Stofffetzen über den Kopf geworfen hatte und er nichts mehr sehen konnte, verstummte auch das Winseln und Arrow hatte endlich ihre Ruhe.
Mit einem zufriedenen Grinsen lehnte sie sich an ihren Baum und schloss die Augen. Zwar tobte um sie herum noch immer die Wilde Jagd, doch jetzt war sie weitaus erträglicher als während der ersten Hälfte der Reise.
Nachdem sie es weitestgehend geschaffte hatte, ihre Anspannung zu lösen, griff sie nach ihrer Tasche und entnahm ihr eines der Brote, die Sally vor ihrer Abreise noch so liebevoll zubereitet hatte. Als sie es ausgewickelt hatte, bemerkte sie endlich das kleine Paar Schühchen vor ihren Füßen. Sie gehörten zu einem kleinen Mädchen, das vor ihr stand und sie ausdruckslos betrachte. Wäre die Kleine nicht so blass gewesen und hätte sie weniger dunkle Augenränder gehabt, hätte Arrow sie als allerliebst empfunden. Denn mit ihrem gelockten, haselnussbraunen, mit einer blauen Schleife zusammengebundenen Haar und ihrem niedlichen Cape, das für diese Jahreszeit viel zu kurz war, mutete das Mädchen wie ein kleiner Engel an.
„Hallo“, sagte Arrow lächelnd.
„Hallo“, erwiderte die Kleine, ohne eine Miene zu verziehen.
Hilfe suchend schaute Arrow sich um. Es schien nicht unbedingt zu den Stärken der Kleinen zu gehören, eine Unterhaltung in Gang zu bringen. Trotzdem stand sie da und starrte Arrow an. Allerdings war es nicht lästig. Im Gegensatz zu dem knurrenden Dickwanst empfand sie die Aufmerksamkeit dieses Engelchens als sehr angenehm.
„Möchtest du dich zu mir
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