Frühlingserwachen (Winterwelt Trilogie) (German Edition)
ins Ohr flüsterte. Arrow hatte die Worte genau verstanden, obwohl das Flüstern viel mehr wie das Rauschen des Windes zwischen den Blättern einer Baumkrone geklungen hatte.
Shoes konnte sich ob Arrows entgeisterten Gesichtsausdrucks um ein Haar nicht mehr einkriegen und krümmte sich vor Lachen.
„Hattest du nicht gesagt, dass sie nicht sprechen können?“, fragte Arrow verblüfft.
Der Gnom nickte. „Verrate es keinem.“
Der Auszug aus der Weltenbibliothek war weitaus angenehmer als der Einzug. Denn es schnellte kein hölzerner Arm aus der Wand und katapultierte sie mit einem Ruck auf die andere Seite. Stattdessen reichte die Dryade ihr die Hand, und bevor Arrow sich versah, stand sie auch schon draußen.
Ihre erste Amtshandlung bestand darin, Whisper aus dem Medaillon zu befreien. Er machte gar nicht den Eindruck eines Pferdes, das schon viele Tage keinen Auslauf mehr bekommen hatte. Der Rappe wirkte ruhig und ausgeglichen. Sein Fell glänzte gesund und seine Augen leuchteten.
Zu ihrer Überraschung bekam sie auch schnell wieder Gesellschaft von dem Dryadenmann, der sie bei ihrer Ankunft zur Weltenbibliothek gebracht hatte. Wortlos, aber lächelnd begrüßte sie ihn und ließ sich eine Weile von ihm durch den Wald begleiten. Dieses Mal waren ihr die vielen Beobachter hinter, aus und auf den Bäumen nicht verborgen geblieben. Es war ein großer Abschied, vor allem weil sie nicht wusste, ob sie lachen oder weinen sollte. Auf der einen Seite war sie erleichtert, ihrem Ziel endlich ein Stück näher gekommen zu sein. Auf der anderen Seite vermisste sie ihre neu gewonnenen Freunde schon jetzt. Auch wenn sie nicht jede Dryade persönlich kannte, hatte sie dieses Volk in ihr Herz geschlossen.
Wehmut breitete sich in ihrem Gemüt aus. Nicht wissend, ob es die Sache einfacher machen würde, wenn sie einfach losliefe, schluckte sie die Traurigkeit hinunter und sperrte ihre Gedanken fort. Allein dieser Augenblick war hier und jetzt noch wichtig – die Sonne, deren Strahlen sanft ihre Wangen küssten, der Schnee, welcher funkelnd das Gras unter seiner Decke schlafen ließ. Vögel zwitscherten in den Bäumen und alles wirkte so friedlich und verträumt. Denn niemand wusste zu diesem Zeitpunkt, dass dieser Welt ein erneuter, nicht enden wollender Winter bevorstand. Sie alle waren zuversichtlich und sollten es auch bleiben.
Obwohl sie es so aussehen gelassen hatte, war Arrow nicht entgangen, dass der Dryade schon lange nicht mehr neben ihr wanderte. Er konnte sich nicht allzu weit von seinem Baum entfernen, und so war er einfach irgendwann stehen geblieben, während sie mit Whisper weitergegangen war. Nie hätte sie erwartet, dass ihr ein Abschied so schwer fallen würde. Bei den Dryaden hatte sie etwas gefunden, das schon lange auf der Suche nach ihr war, und gleichzeitig etwas zurückgelassen, dessen Verlust sie so unendlich traurig machte. Aber vermutlich ging das eine ohne das andere nicht. Trotzdem spürte sie seine betrübten Blicke noch lange auf ihrem Rücken. In der Hoffnung, sich ablenken zu können, saß sie irgendwann auf ihrem großen Rappen auf und ließ sich in Windes Eile von ihm fortbringen. Die frische Luft tat ihr gut, und wenngleich der klirrend kalte Wind in ihre Wangen biss, genoss sie den Ritt. Obwohl der Perseide all die Zeit ganz nah bei ihr gewesen war, hatte sie ihn dennoch vermisst. Es war ein langer Weg gewesen, bis sie Whisper endlich als einen Teil ihrer Selbst hatte anerkennen können. Anfangs hatte sie in ihm nur einen Wärter sehen können, der dafür zuständig gewesen war, sie zu bestrafen, sobald sie die ihr auferlegten Grenzen überschritt. Seine Gegenwart war ihr unangenehm gewesen, ihn zu streicheln hatte sie große Überwindung gekostet – bedeutete diese Geste doch etwas Liebevolles. Zwar hatte sie stets das Gefühl gehabt, ihm mit ihrer abweisenden Art Unrecht getan zu haben, diese Empfindungen zu verwerfen, war jedoch ebenso schwer zu bewältigen gewesen. Inzwischen gehörte das alles der Vergangenheit an. Sie sah in ihm nicht länger den Feind, der sie in ihrer Freiheit einschränkte, sondern einen engen Freund, mit dessen Hilfe sie imstande war, Unmögliches möglich zu machen. Der Perseide gab Arrow Sicherheit, indem er ihr Flügel verlieh.
Völlig in Gedanken versunken, hatte sie gar nicht bemerkt, dass sich um sie herum gar kein Schnee mehr befand. Der Himmel war klar an jenem Tag.
Überall war es grün, die Vögel zwitscherten in den Bäumen und hinter den
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