Frühlingserwachen (Winterwelt Trilogie) (German Edition)
beobachteten die Anwesenden, was weiter geschehen würde, doch da war das Spektakel auch schon vorbei.
Als der Morgen graute, waren die Zwerge schon wieder in den Untergrund zurückgekehrt und die Glut im Kamin längst erloschen.
Alle schienen ob der nichts sagenden Ereignisse erleichtert zu sein, nur Arrow und Harold nicht. Als die anderen sich längst in ihre Schlafgemächer zurückgezogen hatten, saßen die beiden noch immer in der Bibliothek und versanken mehr und mehr in ihre eigene Welt.
Arrow war nicht enttäuscht. Sie überlegte. Was hatte sie wohl falsch gemacht?
„Nichts“, flüsterte die Stimme in ihrem Kopf. „Hab Geduld und leg dich schlafen.“
Arrow zuckte zusammen. Das waren nicht ihre Gedanken, die sie da hörte. Je mehr diese Stimme zu ihr sprach, desto klarer wurde ihr das. Allmählich wuchs ihr diese ganze Geschichte über den Kopf. War es vielleicht möglich, dass sie ihren Körper nicht länger allein bewohnte? Und wenn es so war, würde sie dann irgendwann doch die Kontrolle über sich selbst verlieren? Konnte sie womöglich von dieser Stimme verdrängt werden? Und könnte sie sie sterben lassen, ohne dass es jemals ans Licht kommen würde? War sie gut oder böse? Oder sprach da vielleicht sogar ihr Nyridengeist zu ihr? Rein physisch gesehen waren sie eins – jetzt. Doch viele Jahren waren vergangen, bis Geist und Seele zueinander gefunden hatten. Außerdem klang die Stimme, die da so oft zu ihr sprach, eindeutig männlich.
Verwundert bemerkte Arrow, dass Harold noch immer in seinem Sessel verweilte und besorgte Blicke aus dem Fenster warf. Nie zuvor hatte sie ihn so wenig Arroganz ausstrahlen sehen wie in diesem Moment. Genau genommen war diese Eigenschaft gerade überhaupt nicht da. Und zum ersten Mal fragte sie sich nicht, was Adam wohl an ihm finden mochte, denn er erweckte ausnahmsweise mal einen liebenswerten Eindruck.
Plötzlich lief Arrow ein kalter Schauer über den Rücken. Immerhin dachte sie da gerade so nett über Harold nach! Ein einziger normaler Moment würde ihn nicht zu einer anderen Person machen. Und das war jetzt auch nicht wichtig.
„Hast du keine anderen Sorgen, als mich so schamlos von der Seite anzuglotzen?“, fragte Harold mit müder Stimme, ohne sie anzusehen.
Arrow fiel ein Stein vom Herzen, als sie bemerkte, dass alles wieder beim Alten war. Wortlos ging sie ins Turmzimmer.
Bevor Arrow einschlafen konnte, betrachtete sie noch lange die Schneeglöckchen, welche nach wie vor in voller Blüte standen. Seit jeher hatte Anne es vermocht, so manch eine wundersame Blume in ihren Gewächshäusern außerhalb der für die Pflanze vorgesehenen Jahreszeit zur vollen Entfaltung zu bringen. Doch Frühlingsblumen während der Winterzeit erblühen zu lassen, war ein Kunststück, das auch mit den besten Treibhäusern nicht zu bewältigen war. Dazu war eine besondere Magie vonnöten, ein Zauber, den Keylam im Grunde nicht besaß und den Dewayne gegenwärtig nicht in der Lage war auszuüben.
Tausend Dinge gingen ihr durch den Kopf. Ausnahmsweise redete die fremde Stimme mal nicht dazwischen.
Arrow war klar, dass die ganzen Gedanken im Moment zu nichts führen würden, und, schnappte sich das Buch von Charles Dickens. Ohne den anderen Geschichten Beachtung zu schenken, schlug sie das Buch an der Stelle auf, an welcher der Wind sein Unwesen trieb. Es war noch immer die gleiche Passage und sie hatte nicht den blassesten Schimmer, wie sich die Geschichte wohl weiterentwickeln würde. Aber gegenwärtig interessierte sie es auch gar nicht. Sie wollte gern wieder den Wind in ihren Träumen sehen und mit ihm zusammen irgendein unbekümmertes Abenteuer erleben. Wenig später tat sie das dann auch …
Als Arrow erwachte, öffnete sie ihre Augen, rührte sich sonst aber nicht weiter. Eine gefühlte Ewigkeit starrte sie ins Leere. Während sie mit dem Wind zusammen über ihre alte Heimat Elmtree geflogen war, war wieder das fahle Gesicht aus der Kirche aufgetaucht und hatte zu ihr gesprochen. Auch dieses Mal hatte sie nicht mehr von dem Mann erkennen können, da er sich im Schatten gehalten hatte und offenbar ganz in Schwarz gekleidet war.
„Dein Klopfen wurde erhört“, hatte er gesagt. „Heute Nacht werden sie einen Diener schicken, der das Tor für dich öffnet.“
„Dann wird es heute Nacht geschehen?“, hatte sie mehr zu sich selbst gemurmelt als zu ihm.
„Hab Geduld“, hatte der Mann sie gebeten. „Der Weg zwischen den Toren ist lang. Morgen wird es so weit
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