Frühlingserwachen (Winterwelt Trilogie) (German Edition)
in die Augen. „Sie ist stark, Dewayne. Mehr als einmal hat sie mir das Leben gerettet. Ich brauche sie dort!“
„Und ich brauche sie hier!“, entgegnete er ungehalten. „Wir brauchen sie hier!“
Diese Worte hatten die Aufmerksamkeit der anderen erregt. Arrow hatte erreicht, was sie wollte, und konnte dem Ganzen ein Ende setzen.
Voller Zorn funkelte sie ihren Bruder an. „Bewahre dir dieses Gefühl“, sagte sie verbittert. „Vielleicht wirst du deiner Frau dann beim nächsten Mal etwas mehr Verständnis entgegen bringen und sie in den Arm nehmen, wenn sie dich anfleht nicht in die Unterwelt zu gehen, anstatt dich mit ihr zu streiten, und sie danach pausenlos nur anzuschweigen!“
Aufgelöst betrachtete Dewayne seine Schwester. „Was willst du damit sagen?“, fragte er forsch. „War das etwa eine Lüge?“
Wortlos drehte Arrow ihm den Rücken zu und kehrte an Annes Seite zurück. Die fragenden Blicke von Neve erwiderte sie nicht. Als wäre nichts gewesen, stimmte Arrow mit in die Unterhaltung der Zwerge ein und führte die Gemütlichkeit fort.
Nachdem die Zwerge wieder in den Untergrund und alle anderen zu ihren Schlafquartieren aufgebrochen waren, wollte auch Arrow sich in ihr Zimmer begeben. Doch Dewayne packte sie unverhofft am Arm. „Das“, sagte er vor Wut kochend, „werde ich dir niemals verzeihen.“
Emotionslos befreite sie sich aus seinem Griff. „Da scheiß ich drauf“, erwiderte sie unbeeindruckt und verließ anschließend die Bibliothek.
Gedankenleer schlenderte Arrow mit einer Fackel in der Hand durch das Schloss und betrachtete ein letztes Mal die schönen Gemälde. Die meisten von ihnen hatte Keylam einst an die Wand gebracht, wovon Arrow die älteren mit der Zeit aufgearbeitet hatte. Einige waren allerdings auch ihrem eigenen Pinsel entsprungen. Man konnte die unterschiedlichen Techniken genau voneinander unterscheiden. Es war nicht so, als hätte sie nie versucht, Keylams Stil nachzuahmen, doch das sah sehr viel einfacher aus, als dass es tatsächlich der Fall war. Immerhin hatte er in der Praxis einige hundert Jahre Vorsprung vor ihr gehabt.
Normalerweise waren Arrow die langen Schatten rund um den dürftigen Schein der Fackeln nicht geheuer. Sie hasste es, von Dunkelheit umgeben zu sein. Das allein war auch immer der einzige Trost an diesem unendlich bestialischen Winter gewesen – im Schnee war es des Nachts selten vollkommen dunkel gewesen.
Heute fühlte es sich jedoch anders an. Inzwischen kannte sie beinahe jeden Winkel des Schlosses und ihr gefiel, wie es mit all seinen Gemälden und Erinnerungen so friedlich in die Nacht hinein schlummerte. Was würden ihr diese Wände jetzt wohl sagen, wenn sie sprechen könnten?
Unter den vielen Bildern gab es jedoch eines, das jedem Betrachter am besten von allen gefiel. Es stellte Arrows und Keylams Hochzeit im Sumpf der Erinnerungen dar. Sie hatten es im vergangenen Jahr gemeinsam erschaffen. Die verschiedenen Arten der Darstellungen wirkten im Zusammenspiel absolut wunderbar. Und alle ihre Lieben waren auf dem Gemälde zu sehen – selbst diejenigen, die zum Zeitpunkt der Hochzeit nicht anwesend sein konnten. So hatte Keylam beispielsweise Arrows Vater derart in das Bild eingebaut, als hätte er sie Keylam am Altar übergeben. Das war ohnehin das Schlimmste für Arrow gewesen, dass ihr Vater nicht da war, um an diesem wichtigen Tag zu tun, was alle Väter irgendwann tun mussten – ihre Tochter bei der Hochzeit in die Hände eines Anderen zu geben.
Das Gemälde war schön und traurig zugleich. Arrow hatte an jenem Tag gewusst, dass das Traumbild von Melchior im Sumpf der Erinnerungen allgegenwärtig gewesen war, trotzdem hatte sie dieses Wissen nicht über seinen Verlust hinwegtrösten können.
Plötzlich wurde sie aus ihren Gedanken gerissen. Ein dumpfer Knall ertönte aus der Richtung der Pferdeboxen, gefolgt von schrillem Wiehern. Ohne zu zögern lief sie durch die dunklen Hallen. Mit jedem Schrei, den die Pferde von sich gaben, schlug ihr Herz schneller. Es klang, als würde dort ein Gemetzel veranstaltet.
Blanke Panik überfiel Arrow, als sie endlich die Boxen erreicht hatte. Whisper sprang wie von Sinnen gegen eine Art unsichtbare Barriere, hinter der Merlin mit blutunterlaufenen Augen auf dem Boden lag. Der Schimmel wirkte wie ein Monster. Am ganzen Körper traten seine Adern hervor. Kratzspuren waren auf seinem Hinterteil zu sehen und aus seinem Maul tropfte Blut. Immer wieder versuchte er sich aufzusetzen, wurde
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