Frühstück mit Kängurus
jeder Wegbiegung gab es eine interessante Stelle oder einen unvergesslichen Ausblick. Der Alpine National Park ist mit sechstausendvierhundert Quadratkilometern etwa siebzehnmal so groß wie die Insel Wight, doch in Wirklichkeit noch größer, weil er im Osten an den seinerseits wieder größeren Kosciuszko National Park in den Snowy Mountains anschließt, kurz hinter der Grenze in New South Wales. Ron zeigte auf den Mount Kosciuszko - er nannte ihn »Kozzie«, - doch er war fast einhundert Kilometer weit weg, und ich konnte ihn nicht einmal mit dem Fernglas sehen.
Wir beschlossen den Tag auf dem imposanten Gipfel des Mount McKay, wo es noch mehr Blicke auf die Welt zu unseren Füßen gab: Kette um Kette steiler Berge zog sich bis zum weit entfernten Horizont. Ron besah sich das Ganze mit dem prüfenden Auge desjenigen, der nach verräterischen Rauchfahnen Ausschau hält.
»Und für wie viel von diesem Gebiet sind Sie verantwortlich?«, fragte ich.
» F ü r einhunderttausend Hektar « , erwiderte er.
» Ganz sch ö n gro ß es Areal « , sagte ich und dachte an die Verantwortung.
» Ja, ja « , antwortete er, kniff die Augen zusammen und schaute nachdenklich in die Ferne. » Da habe ich richtig Gl ü ck gehabt. «
Nun musste nat ü rlich etwas total Irres kommen, wenn es besser als Glenrowan, der Powers Lookout oder der Alpine National Park sein sollte, und ich bin auch ü berzeugt, dass kein anderes Land das noch h ä tte toppen k ö nnen. Doch Howe versicherte mir, er habe ein allerletztes Schmankerl f ü r uns - etwas, das nur in einer kleinen Ecke Victorias existierte und nirgendwo sonst. Mehr lie ß er sich nicht entlocken. Um die Vorfreude zu steigern, ü bernachteten wir in einem verschlafenen, altmodischen K ü stenbadeort namens Lake Entrance, nicht ohne zum Abendessen leckere Meeresfr ü chte zu genie ß en und danach einen kleinen Stadtbummel zu machen. Am n ä chsten Tag ging's dann zu der mysteri ö sen Attraktion, die auf dem Heimweg nach Melbourne lag.
Ein ziemlich langes St ü ck fuhren wir durch ebenes, sonniges, eint ö niges Farmland. In einem Zustand dumpfer Zufriedenheit d ö ste ich vor mich hin, da bog Alan an einem gro ß en Schild, das ich aber nicht mehr lesen konnte, vom Highway ab und hielt auf einem weitr ä umigen, fast leeren Parkplatz. Ich qu ä lte mich vom R ü cksitz und stieg blinzelnd aus. Wir standen neben einem langen r ö hrenf ö rmigen Geb ä ude, das an einen gro ß en Folientunnel f ü r junge Pflanzen erinnerte, aber aus Beton und wei ß angestrichen war.
Ich schaute Howe fragend an.
»Der Riesenwurm«, verkündete er.
Voller Staunen und Bewunderung starrte ich ihn an. »Doch nicht etwa der berühmte Riesenwurm aus Südwest- Gippsland?«
»Doch der. Dann kennst du ihn also.«
Ich stieß das hohle Lachen aus, das eine solche Frage verdiente. Ich hatte seit Monaten von diesen Monstern der Unterwelt gelesen, wenn auch meist in Fußnoten oder flüchtigen Anmerkungen. Einen Schrein für sie zu erblicken hätte ich jedoch nicht erwartet.
Selbst in einem Land mit derart vielen extravaganten Tieren sind die Riesenwürmer von Gippsland etwas Außergewöhnliches. Sie heißen Megascolides australis und sind mit bis zu drei Metern sechzig Länge und mehr als fünfzehn Zentimetern Durchmesser die größten Regenwürmer der Erde. Sie sind so massiv, dass man sogar hören kann, wie sie sich mit gurgelnden Lauten, die wie Geräusche von schlecht verlegten Leitungen klingen, durch die Erde wühlen. Wieso sich in dieser kleinen Ecke Victorias diese extrem überdimensionalen Würmer entwickelten, ist eine Frage, die die Wissenschaft noch beantworten muss - aber ach, sehr wenige der besten Köpfe der Welt fühlen sich zum Studium der Regenwurmphysiologie und -verbreitung hingezogen. Was die Welt allerdings weiß, befand sich in dem Röhrengebilde vor uns, versprach Howe.
Neugierig betraten wir die Ausstellungsräume. Ein riesengroßes Foto, das Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts aufgenommen wurde, zeigte vier lächerlich zufrieden dreinschauende Männer, die einen schlaffen Dreimeterfünfziger in der Hand hielten, der wenig dicker als ein normaler Regenwurm war. Ich betrachtete ihn mit großem Interesse, bis Carmel meine Aufmerksamkeit auf zwei lebende Riesenwürmer lenkte, die in einer großen, eineinhalb Zentimeter dicken, mit Erde gefüllten Glasplatte ausgestellt waren. An manchen Stellen war die Erde von der Scheibe weggeschoben, und wir konnten ein, zwei Millimeter
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