Fruehstueck mit Proust
gesucht hatte. Denn wenn ich ein Buch Monate oder Jahre später noch einmal lese, ist es nie derselbe Satz, der meine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Als wäre die Leserin, die ich früher gewesen war, an diesem Tag mit anderen Wünschen, anderen Absichten gekommen.
Jade hat mir übrigens nicht gesagt, ob sie auch so ein Heft hat. Für eine angehende Schriftstellerin scheint mir das unverzichtbar. In den Regalen dieser Wohnung stehen so viele Bücher. Einige habe ich gelesen, vor langer Zeit, da ich aber keins davon besaß, war es mir manchmal nicht möglich, sie ein zweites Mal zu lesen. In meinem Zimmer, das vor meinem Einzug Jades Schlafzimmergewesen sein muss, bedeckt das Bücherregal eine ganze Wand, und fast hätte ich meine zweite Nacht hier damit verbracht, mal hier und mal dort hineinzuschauen und entzückt diesen oder jenen Autor wiederzufinden, wie einen Freund, den ich aus den Augen verloren hatte.
Jade kann nicht recht verstehen, dass ich meine Liebe zu den Büchern sogar vor Jean verheimlicht habe. Aber wie hätte ich meinem Gefährten gestehen sollen, dass der Kuss, der mich von einer unerreichbaren sinnlichen Liebe träumen ließ, ein Kuss von Cyrano war? Ich glaube, ich könnte ihn noch an der Schwelle meines Todes auswendig zitieren, selbst wenn ich das Gedächtnis verloren hätte:
Wird man durch einen Kuss zum Diebe? Er ist ein trauliches Gelübde nur, ein zart Bekenntnis … ein Wunsch, dem Mund gebeichtet statt dem Ohr … Die Seele schwebt zum Lippenrand empor und gibt sich als ein süßes Naschwerk hin.
Wenn ich dieses Heft mit Zitaten, Gedichten und Auszügen aus all meinen Lieblingswerken durchblättere, ist mir, als verberge sich zwischen diesen Seiten das Leben, von dem ich träumte. Jedes Mal, wenn ich darin lese, bin ich zu Tränen gerührt: mein Leben – erzählt von den größten Autoren der Welt. Es ist ein einzigartiges Buch, das wertvollste, das ich besitze. Ich habe meine Füße in die Spuren der Wörter gesetzt, die der Himmel mir zuflüsterte, der Himmel, der über meine liebsten Schriftsteller wacht.
Ich spüre, dass meine kleine Jade sich Sorgen um mich macht, dabei habe ich mich lange nicht mehr so gut gefühlt.Wenn ich ihre Wohnung verlasse, um ein bisschen im Viertel spazieren zu gehen, ordne ich die Gesichter, die ich sehe, früheren Bekannten zu, doch sie haben immer noch das Alter von damals, als wäre nur ich älter geworden …
In Paris gibt es so viele Menschen, dass mich der tägliche kleine Spaziergang mit einer ganzen Welt erfüllt. Nach meinem Streifzug koche ich mir einen Tee und betrachte meine Hände. Hände täuschen nie über das Alter hinweg. Sie erzählen von den Mühen der Arbeit, den immergleichen Gesten, von sonnigen Sommern und harten Wintern. Meine Hände waren die Gefährten meiner Seele, die Urheber vollendeter Träume, Phantom mir entrissener Körper und nie vernarbter Wunden. Es sind die Hände, die deine Haut berührten, Jean. Als du von mir gingst, haben sie meine Tränen aufgefangen. Es ist das erste Mal, dass ich trockenen Auges mit dir spreche. In den vergangenen drei Jahren konnte ich nicht an dich denken, ohne zu weinen. Als die Kleine mich zu sich holte, wusste sie nicht, welche Wunder geschehen würden. Was wir mit unseren Taten, den guten und den schlechten, am Ende bewirken, bleibt uns immer ein Mysterium.
S eit siebzehn Tagen lebten Mamoune und ihre Enkeltochter nun zusammen. An diesem Morgen verließ Jade ihre Großmutter nach dem Frühstück, das sie, um diesen herrlichen Juni mit seinen idyllischen Temperaturen zu begrüßen, auf dem Balkon eingenommen hatten. Jade freute sich über das milde Wetter; so war Mamoune, die ihr Leben in den Bergen verbracht hatte, nicht in der Wohnung eingesperrt. Sie würde sich noch früh genug an den Pariser Regen gewöhnen müssen, der, wenn er einmal begonnen hatte, gar nicht mehr aufzuhören schien.
Auf dem Weg zur Metro fiel Jade wieder einmal auf, dass die Pariser immer auf ihre Füße starrten. Sie fragte sich, ob die Schönheit einer Stadt nicht auch von der Glücksfähigkeit ihrer Bewohner herrührte. Doch als sie daran dachte, dass Mamoune ihr am Morgen vorgeschlagen hatte, roten Samt zu kaufen, um Vorhänge daraus zu nähen, breitete sich gleich ein Lächeln auf ihren Lippen aus. Am Tag zuvor hatte Jade ihr vorgeschwärmt, wie gern sie üppige Theatervorhänge im Esszimmer aufhängen würde, und über die exorbitanten Preise des Innenausstatters geschimpft. Mamoune hatte
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