Fruehstueck mit Proust
frönten. Sich Tag für Tag in die Gedankenwelt der anderen hineinzuversetzen hatte sie beide gelehrt, die kleinen Glücksmomente im Leben gemeinsam zu pflücken und zu einem Strauß zu binden. Bücher, Hautcremes, eine Seidenbluse – Jade schenkte Mamoune an diesem Tag einen Luxus, den sie nie besessen und sich nicht einmal gewünscht hatte. Und auch Jade wurde verwöhnt. Sie bekam schöne Stifte, weiße Schreibhefte und einen kuschligen Bademantel.
»Um dich in den frühen Morgenstunden vor meinen geöffneten Fenstern zu schützen«, fügte sie schelmisch hinzu.
Mamoune
L iebe Jeanne Coudray, überrascht und mit großer Freude habe ich Ihre E-Mail erhalten …
Mein Gott, wie idiotisch, da sitze ich doch tatsächlich mit Herzklopfen vor dem Computer! Dass er mir so schnell antwortet! Es ist gerade ein Tag vergangen, seit ich ihm geschrieben habe. Erstens, er ist neugierig auf Jades Roman. Das ist schon mal sehr beruhigend. Ich habe mich also nicht getäuscht, dieser Verleger ist ein guter Mensch, und mit welch schönen Formulierungen er seine Gedanken zum Ausdruck bringt:
Hat der Roman etwas Neues und Wichtiges zu sagen? Und sagt er es gut? Im richtigen Ton, Tempo, Rhythmus … und im richtigen Moment? Heutzutage werden solch grundlegende Fragen oft ersetzt durch andere, die vor allem auf die Verkäuflichkeit eines Werkes zielen …
Das habe ich auch schon festgestellt! Danach spricht er von dem Unvermögen der Autoren, sich selbst noch einmal zu lesen. Er beschreibt, wie sehr manchmal auch die größten Schriftsteller zum Spielball ihres Schreibens werden. Hinzu kommt, dass eine Vielzahl junger Autoren – womit er auch jene meint, die erst mit sechzig zu schreiben beginnen – den Abstand zu ihrem Text falsch einschätzen …
Bisweilen besteht ein Abgrund zwischen dem, was sie geschrieben zu haben glauben, und dem, was wir lesen. Die alten Hasen der Literatur nehmen sich vor diesen Fallen in Acht und stellen an jeder entscheidenden Etappe ihres Romans Wächter auf, um sich vor der Illusion
zu schüt-zen, die auch mit dem Älterwerden nicht aufhört, sich aber leichter kontrollieren lässt, wenn man ihre Streiche kennt …
Das ist sehr hilfreich für mich als Jades Mentorin. Er schreibt, das Leben eines Verlegers bestehe aus einer Abfolge kleiner Wunder, aus Begegnungen und Zufällen, die in Wirklichkeit keine seien, aus spontanen Einfällen und törichter Sturheit. Und die folgende Stelle des Briefes lese ich mit gerunzelter Stirn noch zwei Mal, um sicherzugehen, dass ich nichts falsch verstehe:
… Ich muss es Ihnen einfach sagen, liebe Jeanne, Ihre Geschichte von der heimlichen Leserin hat den Verleger und den Schriftsteller in mir von Herzen gefreut. Hoffentlich erscheint Ihnen mein Anliegen nicht allzu unverschämt, aber es wäre eine große Ehre für mich, wenn wir uns darüber einmal bei einer Tasse Kaffee unterhalten könnten oder wenn ich es sogar wagen dürfte, Sie etwas länger in Anspruch zu nehmen, bei einem gemeinsamen Essen, denn ich bin sehr gespannt, mehr über diese Leserin und ihre Lektüren zu erfahren …
Was soll ich ihm bloß antworten? Diese galante Einladung stürzt mich in große Verlegenheit. Mein Gott, weiter unten fragt er dann, ob ich selber schreibe, und lobt mich für die Sorgfalt, mit der ich Jades Roman betreue … Aber den Gnadenstoß versetzt mir erst sein Postskriptum mit der Frage:
Haben Sie früher einmal in der Haute-Savoie gelebt?
Habe ich irgendetwas geschrieben, das meine Herkunft verraten könnte?
Wenn ich mir früher hätte vorstellen können, dass ich eines Tages einem Verleger schreiben würde, noch dazu einem wie dem von
En lieu sûr
, hätte ich darüber meine Ziegen in den Bergen vergessen! Als ich ihm die E-Mail schickte, habe ich mir keine großen Gedanken gemacht.Wie berauscht von der Leichtigkeit dieses kleinen Klicks, der meinen Brief im Nu davontrug, habe ich gar nicht weiter darüber nachgedacht, was ich da eigentlich tat … Jetzt, wo ich die Antwort erhalte, wundere ich mich über meine Kühnheit. Da habe ich mir ja was eingebrockt, ich, die ich sonst im Leben so zurückhaltend bin! Dieser Brief lässt mir den ganzen Vormittag keine Ruhe. Egal, was ich tue, immer schwirren mir einzelne Formulierungen durch den Kopf.
Was für ein Mann, dieser Charme und diese Eleganz! Ich bekomme eine leise Ahnung, was mir entgangen ist, als ich mich all die Jahre so beharrlich in meinen heimlichen Sehnsüchten verbarg wie in meinen Bergen. Wenn mich jetzt, in
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