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Fruehstueck mit Proust

Fruehstueck mit Proust

Titel: Fruehstueck mit Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frédérique Deghelt
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ganzen Leben habe ich eine Stunde in meinem Garten oder in meiner Küche damit zugebracht, über meine eigene Unfähigkeit zu staunen. Selbst in den schwierigsten Büchern, wusste ich, gab es ein Geheimnis, das ich aufspüren konnte, und das forderte meinen Geist heraus. Wie seltsam ist doch diese Welt, in der eine einfache, aus dem vertrackten menschlichen Denken hervorgegangene Maschine davon weiter entfernt ist als das primitivste Werkzeug.
    Ich bin eine alte Schwätzerin geworden, aber mir kommt unweigerlich der Gedanke, dass die Veränderung zwischen der Welt, wie ich sie kannte, und der, die ich heute sehe, vor allem in ihrer Geschwindigkeit liegt. Mir ist, als könnte ich Jade gar nichts mitgeben aus der Zeit, die meine war. Andererseits lauere ich geradezu auf ihre Ratschläge, um in ihrem Universum und nach ihrem Rhythmus zu leben. Und das ist kein Kinderspiel! Wenn ich gelegentlich an meine Mutter zurückdenke, die immer sagte, der Beruf der Hebamme sei der einzige, der sich nie ändern werde, so glaube ich, sie würde sich imGrab umdrehen, wenn sie die Dokumentation über das Mutterwerden in der heutigen Zeit gesehen hätte, die vor zwei Tagen im Fernsehen lief! Keine menschliche Zelle ist mehr unantastbar, und an manchen Tagen denke ich sogar, ich sollte mich mit dem Sterben beeilen, bevor sie sich noch irgendeinen teuflischen Wahnsinn ausdenken, um die Alten in einem übernatürlichen Zustand am Leben zu erhalten.
    Höre ich da Stimmen im Flur? Ist Jade schon zurück? Ich werde ihr noch nichts von meinem Brief an den Verleger erzählen. Lieber warte ich noch ein paar Tage, bis er geantwortet hat. Auf so einen Enthusiasmus kann schließlich kein Schweigen folgen … Ich höre noch eine Männerstimme neben der von Jade. Sie ruft mich! Wie sehe ich bloß aus! Ausgerechnet jetzt …
     
    Ich habe mich nicht getäuscht, es war eine Männerstimme, die ich da gehört habe. Jade hatte die schöne Idee, zu Hause noch einen Kaffee zu trinken, um mir ihren indischen Freund vorzustellen. Was für ein respektvoller und höflicher junger Mann. Sein ganzes Wesen strahlt Offenheit aus, und Jade hatte recht: Sein Lächeln lässt ihn geradezu leuchten. Um seine Neugier zu befriedigen, krame ich in meinen Erinnerungen und erzähle, dass wir mit Holzschuhen in die Schule gingen und dass uns fünf Kilometer am Morgen und wieder am Abend nicht schrecken konnten. Das Thermometer zeigte bei uns in den Bergen oft minus zwanzig Grad, Temperaturen, die wohl auch nur in dieser vergangenen Zeit vorgekommen sind. Der Winter war härter und der Sommer heißer. Und auch die Menschen waren danach gestrickt, sie waren nicht so lau wie heute. Jade und Rajivamüsieren sich köstlich über den Arzt, der, als das erste Auto ins Dorf kam, zu meiner Großmutter sagte:
    »Zehn Kilometer in der Stunde, das ist doch Wahnsinn, das hält das Herz gar nicht aus …«
    Über irgendeinen Umweg kommen wir auf Gewalt zu sprechen, und Jade und Rajiv fragen sich, welche Rolle sie wohl in unserem Alltag gespielt hat. Sicher meinen sie, im Vergleich zu der heutigen Brutalität sei das Leben damals vielleicht doch sanfter mit den Menschen umgegangen. Aber wir lebten in einer Zeit, in der alle zwanzig Jahre Krieg war, und nie zuvor hatte das Grauen solche Höhen erreicht. Nie hatten unsere Großeltern so blindwütige Zerstörung erlebt. Aber hat die Gewalt, die uns im Krieg widerfuhr, uns darum vor der Härte des Alltags bewahrt, die sie nun heute in Friedenszeiten erfahren? Haben wir, von den Kriegen einmal abgesehen, ein schöneres Leben gehabt als sie? Ich würde es nicht beschwören … Doch was bleibt von dieser Vergangenheit im Gedächtnis der Menschen erhalten? Der Gedanke macht mich wütend, dass vielleicht gerade das Wichtigste zerrinnt. Dass nur die Anekdoten bleiben.
    »Ihr lieben Kinder«, sage ich, »ich kann mit eurer Zeit, die ich jeden Tag neu zu verstehen versuche, nicht mehr mithalten. Welchen Schlüssel kann man einem Dreißigjährigen heute mitgeben, dessen Leben von Veränderungen erschüttert wird, die wir uns nicht einmal vorstellen konnten? Ich fürchte, dass ein solcher Schlüssel nur noch Türen öffnet, die es nicht mehr gibt.«
    Rajiv und Jade protestieren. Und Rajiv bittet mich bei der Gelegenheit um die Erlaubnis, mich Mamoune nennen zu dürfen, was einen erstaunten Blick meiner Enkelin zur Folge hat.
    Einen Augenblick lang kann ich ihnen gar nicht mehr richtig zuhören, weil ich mir ansehe, wie gut sie zueinander passen. Ich

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