Fruehstueck mit Proust
er und dazu andere, die noch viel weiter reichten … Nein, danke, deine genügen mir völlig,antwortete sie und nahm sich vor, ihre Gefühle zu ordnen, die total durcheinandergeraten waren durch die Kraft und die Energie, die ihr aus diesen wunderbaren Begegnungen zuflossen. Sie wagte nicht, ihnen einen Namen zu geben, aber sie hatten große Ähnlichkeit mit … ja, ekstatischer Liebe? Aber was war das, Liebe? Und Ekstase? Überdies flüsterte Rajiv ihr noch zu, es gäbe zwar Tausende, die den Weg des Tao perfekt beherrschten, aber seines Wissens sei er der einzige Inder, Pianist und Molekularforscher, der so wahnsinnig verliebt in eine Jade sei, die mit ihrer Großmutter zusammenlebte. Das Einzige, was Jade von diesem Satz vernahm, war »wahnsinnig verliebt«. Nicht, dass er mit solchen Geständnissen gegeizt hätte, aber diesmal schien er seine Worte in einem ruhigen Moment abzuwägen. »Wenn du wissen willst, warum die Stunden, die wir miteinander verbringen, eine große Zukunft haben, dann hör mir gut zu«, sagte er ihr an diesem Tag. Sie schmiegten sich aneinander, und während ihr Herzschlag langsamer wurde, las er ihr vor:
Die Kunst des Beischlafs offenbart die Summe der menschlichen Gefühle und weist den höchsten Weg. Wer sein fleischliches Vergnügen zu regulieren weiß, wird in Frieden leben und ein hohes Alter erreichen.
Jade dachte flüchtig an Mamoune und sagte sich, dass es bestimmt noch andere Arten gab, ein hohes Alter zu erreichen. Aber sie schämte sich ein bisschen dafür: Wie konnte sie sich so ein Urteil erlauben, wo sie doch über das Intimleben ihrer Großmutter gar nichts wusste und auch nichts wissen wollte? Sie beschloss, dass ihr in diesem Orkan, der sie davontrug, auch so schon genügend Gedanken durch den Kopf gingen, ohne dass sie ihnennoch die Lebensgeheimnisse von Mamoune hinzufügen musste. Um ihre Angst zu lindern, versuchte sie sich einzureden, dass man auf dem Gipfel der Lust nicht unbedingt alles wissen musste. Das war ihre alte Berufskrankheit, auch das Unerklärliche noch erklären zu wollen. Und warum sollte sie sich von etwas losreißen wollen, das so befreiend wirkte und das so angenehm war? Ja warum, wo sie doch nun wieder ein unbeschwerter Mensch war, ausgeglichen, fröhlich und voller Ideen? Gut so, es hatte etwas für sich, Mamoune mit ihrem guten Menschenverstand bei sich zu haben!
»Mamoune, möchtest du mitkommen zu einer Freundin, die gerade mit ihrem Baby aus der Klinik gekommen ist?«
Jade hatte für diesen Samstag einen Besuch bei Pauline geplant, die nicht weit weg wohnte und gerade ihr erstes Kind bekommen hatte. Sie hatte recht gehabt: Bei der Aussicht, ein Neugeborenes zu sehen, fingen Mamounes Augen an zu glänzen.
Auf dem Weg vertraute Jade ihr an, dass ihre Freundin am Tag zuvor am Telefon sehr traurig geklungen hatte, wie überfordert von den Ereignissen um die Geburt ihrer Tochter.
Pauline, die so alt war wie Jade, war eine große, schlanke Frau mit einem blonden Pagenkopf, bezaubernd und sympathisch, deren Äußeres auf der Straße für Aufsehen sorgte. Aber als sie ihnen an diesem Tag die Tür öffnete, erkannte Jade sie kaum wieder. Sie trug einen blassblauen Jogginganzug, hatte zersauste Haare, Schatten unter den Augen und wirkte wie abwesend.
»Ist der glückliche Vater nicht da?«, fragte Jade.
»Der ist zum Sport gegangen«, seufzte Pauline. Doch in den Minuten, die folgten, wurde Jade Zeugin einer seltsamen Verwandlung, die Mamoune bewirkte. Sie sah sich zunächst zärtlich das Baby an, beugte sich über seine Wiege und führte eine Art stummes Gespräch mit ihm. Dann nahm sie Pauline in den Arm, wiegte sie und nannte sie »meine Kleine«. Sie erzählte ihr, dass ihr Baby einen Weg finden würde, ihr zu sagen, was es brauchte, dass sie ihm nur zuhören müsse. Mit zärtlichen Gesten und Ratschlägen, aber ohne Lektionen zu erteilen, stärkte Mamoune Paulines Vertrauen in ihre mütterlichen Fähigkeiten, die, so versicherte sie ihr, alle vorhanden wären. Sie musste sie nur nutzen. Zwei Stunden später verließen sie eine lächelnde Pauline; sie hatte sich geschminkt, sich eine Jeans und eine ausgeschnittene Bluse angezogen, über einer triumphierenden Brust, an die sich eine kleines Mädchen klammerte, noch befriedigt von der Süße des vergangenen Augenblicks.
Auf dem Rückweg fragte Jade sie nach ihrem Geheimnis, und statt einer Antwort erzählte Mamoune ihr eine Geschichte über die Mütter einer ganz anderen
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