Fruehstueck mit Proust
diesem Augenblick, jemand danach fragen würde - hätte ich wohl den Mut, das trotz meines Alters zuzugeben? Ich vermisse nicht, was ich noch zu sein glaube und nicht mehr bin, sondern was ich nie geworden bin.
Es war einfach noch nicht die Zeit, ich war zu schüchtern oder zu jung, oder beides. Warum brauchen manche Menschen ein ganzes Leben, um dorthin zu gelangen, wo andere von Geburt an sind, ohne das Geringste dafür zu tun?
Wie auch immer, dieser Brief ist ein Goldbarren in meinem Leben. Das Wort ist schnell gesagt, aber das Abenteuer dahinter ist gewaltig und glänzend und von unschätzbarem Wert. Ich lese ihn noch einige Male und denke an die vielen Wunder. Es begann damit, dass Jade mich rettete und ich mir große Mühe gegeben habe, damit sie es niemals bereut. Erst heute wird mir bewusst, dass ich hier bei ihr meine Lebenslust und Fröhlichkeit wiedergefunden habe, die mir, ohne dass ich’s gemerkthabe, abhandengekommen waren. In diesem Seniorenheim, das ja in Wirklichkeit ein Hospiz ist, wäre ich sehr bald gestorben, daran hätte auch seine beschönigende Bezeichnung nichts geändert. Es gab einige gute Gründe, warum ich dort gelandet wäre, angefangen damit, dass meine Angehörigen mich im Stich gelassen hatten. Und nun befinde ich mich im Dialog mit einem Schriftsteller und Übersetzer, der noch dazu auch Bücher verlegt und mit mir über das Lesen plaudern möchte. Ich glaube sogar, ich habe früher ein oder zwei Bücher von ihm gelesen. Mein Freund Henri hatte sie mir empfohlen. Ich werde auf der Stelle mein Zitatheft suchen und nachsehen, ob ich mir dazu was notiert habe.
Warum, zum Teufel, fragt er, ob ich in der Haute-Savoie gelebt habe? Ich habe mir meine E-Mail noch einmal genau durchgelesen und finde darin nichts, was ihm etwas über meine Herkunft verraten könnte. Ich werde ihm antworten und mich für seine Freundlichkeit bedanken und ihm dabei auch meine Frage stellen. So einem großartigen Menschen begegnet man nicht oft! Man hat viel zu selten die Gelegenheit, richtige Briefe zu lesen oder jemanden auch nur gutes Französisch sprechen zu hören.
Ich habe oft gedacht, dass eine Sprache nicht nur mit einem Land verbunden ist, mit der Gegend, in der sie gesprochen wird, sondern dass sie auch einen Ort in der Zeit hat. Sogar bei uns, wo die Ausbildung rudimentär war und von Dialekt durchsetzt, sprachen die Leute besser Französisch als manche Fernsehmoderatoren heute. Sie stammeln herum wie die Zigeuner, hätte meine Mutter gesagt. Ihre Worte haben manchmal keine Bedeutung, man hat sich schon daran gewöhnt, den Inhalt zuerraten, aber sie ergeben keinen Sinn. Die Sprache gehört also genauso zu einer Zeit, wie sie zu einem bestimmten Landstrich gehört. Sollte es der Forschung gelingen, die Lebenszeit des Menschen noch weiter zu verlängern, wovon ich fest überzeugt bin, dann müssen wir uns ernsthaft Sorgen machen, ob wir Kinder ein und desselben Landes, aber verschiedener Generationen, die sich in Alter und Sprache immer weiter voneinander entfernen, uns eines Tages überhaupt noch verstehen werden.
J ade hatte Mamoune nie gesagt, was sie für Rajiv empfand. Es war so schwer zu definieren. Sie erzählte viel über ihn, über Indien und über das, was sie an seiner Seite entdeckte, aber nichts über ihre Gefühle. Sie wusste nicht, wie sie ihrer Großmutter diese Verzauberung erklären sollte. Jade hatte den Eindruck, durch Rajiv mehr über ihren eigenen Körper und seine subtilen Verbindungen zu ihrer Seele zu erfahren. Sie glitt mit geschwellten Segeln dahin, über einen Ozean von Ekstase, den die Worte längst verlassen hatten. Diese merkwürdige Reise hatte nichts gemein mit dem, was sie früher erlebt hatte. Rajiv entzündete an ihrer Hautoberfläche geheime Stromkreise, die sich im Innern ihres Körpers endlos verzweigten und ihr bei jeder Liebkosung unbekannte Welten auftaten. Manchmal fragte sie sich, wohin dieser rasende Lauf, der sie in eine magische Abhängigkeit trieb, noch führen sollte. Und wie sie unter seinem Eindruck auch nur die kleinste Entscheidung treffen sollte: Was sie erlebte, war so kostbar … Es war ungerecht, aber sie wusste nicht einmal mehr, ob er es war, den sie liebte, oder dieses Erschauern, das er in ihr auslöste, diese ganz neuen, fast animalischen Empfindungen … Als sie das in scherzhaftem Ton einmal ansprach, beruhigte er sie lachend. Tausende Inder und Menschen anderer Nationalitäten praktizierten Tao, hätten die gleichen Kenntnisse wie
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