Fruehstueck mit Proust
zu vergessen, dass er mir fehlte. Ich entdeckte, wie notwendig es war, einander im kleinen Theater der geliebten und dahingegangenen Menschen die Hand zu reichen, um das Schauspiel unserer Gefühle und Erinnerungen wieder genießen zu können.
Im Verlauf dieses Gesprächs, das angefüllt war mit unseren Lebensgeschichten, unseren Lieblingsbüchern und den Sprachspielereien, mit denen Albert seine Erzählung würzte, fanden wir heraus, dass unsere Lebensgefährten am selben Tag gestorben waren. Viele Kilometer voneinander entfernt und einige Jahre vor unserer Begegnung hatten wir zur selben Zeit den Verlust eines Teils unserer Seele beweint. Ich genoss es, von ihm zu lernen, und versuchte meine Unwissenheit zu kaschieren, doch in diesem freudigen Augenblick vergaß ich jede Zurückhaltung. Die vier Stunden, in denen wir miteinander plauderten, als hätten wir das Leben nicht hinter, sondern noch vor uns, wie er bemerkte, kamen mir vor wie vier Minuten und doch zugleich eine Ewigkeit von Glück, das zu verarbeiten ich Tage brauchen werde.
Nach meiner Rückkehr fand ich Jade nervös und wütend vor, weil sie sich Gedanken gemacht hatte, warum dieses Essen so lange dauerte. Ich wusste nicht, wie ichsie beruhigen sollte. Ich hatte ein Taxi genommen, um zu dem Restaurant und zurück zu gelangen, mir konnte also nicht viel passieren. Aber sie hatte das Schlimmste befürchtet und war kurz davor, die Polizei zu alarmieren, damit sie nach mir suchte. Doch ich schwebte so hoch oben in den Wolken, dass es mir nicht gelang, die zerknirschte Miene aufzusetzen, die zu ihrem Zorn gepasst hätte. Fröhlich wie ein Buchfink berichtete ich ihr von diesem Essen der Achtzigjährigen und betonte all die Zufälle, ohne mich groß darüber auszulassen, was daraus folgen könnte. Vergeblich! Doch mitten in ihrem Wutausbruch hielt sie plötzlich inne und sah mich verblüfft an:
»Mamoune, du bist ja verliebt!«
Natürlich habe ich protestiert. Seltsam, wie unverhohlen Worte die wahren Gefühle entlarven können … »Ach was, doch nicht in meinem Alter, Süße. Das ist vorbei.« Jade widersprach und hob zu einer weisen Erklärung an. Die Liebe hört nicht auf die biologische Uhr, Mamoune. Man kann sich in jedem Alter verlieben! (Falls man, dachte ich im Stillen, die menschliche Liebe auf das Gefühl reduziert und den Körper außen vor lässt, sonst könnte diese Uhr erheblich nachgehen!)
Aber ich muss gestehen, dass ich ihr nur mit halbem Ohr zuhörte. In Gedanken war ich noch ganz bei den Stunden, die ich mit Albert verbracht hatte, und ich wollte nicht hören, dass mein Herz Luftsprünge machte, sich aufführte wie ein Zicklein und stark an das erinnerte, was Jade über das Verliebtsein sagte. Eine innere Stimme drang ganz schwach zu mir, sicher war es die Stimme der Vernunft: »Meine arme Jeanne«, sagte sie, »du bist zu pathetisch und redest dir zu viel ein …«Dann aber erhielt ich die Nachricht von Albert, die er mir gleich bei seiner Rückkehr in sein Büro geschrieben haben musste.
Liebe Jeanne, sagen Sie mir, dass ich lächerlich bin, und, bitte, lassen Sie es mich nicht noch mehr werden, wenn ich Ihnen gestehe, dass ich seit unserem gemeinsamen Essen Gefühle hege, die ich nicht zu benennen wage. In einer kürzlich erschienenen Studie über Wünsche und Lebensziele hieß es, Leidenschaft und Impulsivität seien ein Privileg der Jüngeren. Was aber tun mit dieser Impulsivität und dieser Leidenschaft in dem ehrwürdigen Alter, das wir erlangt haben, wenn der Schatten des Sensenmanns keinen Zweifel daran lässt, dass die Dinge getan und gesagt werden müssen, bevor es zu spät ist? Sei’s drum, ich bin wie von Sinnen und so froh, es zu sein heute Abend, nach diesem wunderschönen Mittagessen, das ich gern bis zum Abendessen verlängert haben würde, wenn ich es nur gewagt hätte, Sie zu entführen … Wie Sie sehen, bin ich anscheinend noch nicht alt genug: Ich glaube, ich habe immer noch Zeit. Verzeihen Sie mir diese Torheit. Danke, dass es Sie gibt, Jeanne, die ich ganz oft wiedersehen möchte. Hochachtungsvoll, Ihr Albert.
Ich lese, bin sprachlos und drehe mich sofort um wie eine Sünderin, um sicher zu sein, dass Jade mir nicht über die Schulter schaut.
Am Abend strecke ich mich in meinem Bett aus und spüre tausend verdächtige Zipperlein. Ich seufze und entspanne meinen alten Leib, von dem ich mich einen Moment befreit glaubte. Doch was soll’s … Ich frage mich, wem ich für dieses süße Abenteuer danken soll,
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