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Fruehstueck mit Proust

Fruehstueck mit Proust

Titel: Fruehstueck mit Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frédérique Deghelt
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verströmte, wenn Jade ihr abends das volle weiße Haar flocht, von einer seltenen Schönheit. Einer Schönheit, die sie nicht einmal besessen hatte, als sie noch jünger war. Wenn sie es so betrachtete, erschien ihr Mamounes Liebesgeschichte wie ein Wunder. Und plötzlich bedauerte sie ihre ersten Gedanken und schwor sich, ihr ein Seidenkleid zu kaufen für das nächste Rendezvous mit … ihrem zukünftigen Verleger? Hoffentlich nimmt der mein Buch nicht nur meiner Großmutter zuliebe!, dachte sie lächelnd.
    Aber er schien sie ja auch zu lieben, dieser Teufelskerl,das hatte er ihr sogar gleich nach diesem Essen geschrieben. Als Mamoune ihr das verriet, lief sie rot an wie eine Debütantin. Jade hätte diese Geschichte nicht mal einer Zeitschrift anbieten können, weil ihr niemand geglaubt hätte. Wie gern hätte sie einmal Mäuschen gespielt und die beiden bei ihrem Essen beobachtet, um endlich eine Antwort auf die entscheidende Frage zu finden: Gab es ein Leben nach der Jugend? Allein Mamounes Abenteuer war eine wunderbare Antwort darauf. Ein paar Monate mit ihrer Enkelin zusammenzuleben hatte ihr schon ausgereicht, um neue Interessen zu finden und dieses Leben ohne Jean, das sie drei Jahre lang geduldig geführt hatte, hinter sich zu lassen. Dann war sie auf den Geschmack gekommen und wollte die Welt verstehen, in die Jade sie entführte. Sie hatte neuen Schwung bekommen. Sie war sozusagen bereit für ein neues Leben.
    Jade musste an ihre erste Reise nach Kolumbien denken, an die Euphorie, die sie in den paar Tagen empfand, die sie bei den Kogi-Indianern verbrachte. Sie nannten ihre Priester
Mamo
. Die alten Weisen führten den Stamm an, nachdem sie achtzehn Jahre in der Dunkelheit verbracht hatten. Es war die Aufgabe der Männer, die Tuchstücke zu weben, aus denen die Hemden hergestellt wurden. Sie hatten ihr verraten, dass ihre Gedanken sich formten, während sich zwischen ihren geschickten Fingern die Baumwollfäden ineinander verschlangen. Sie war spontan für eine Reportage dorthin gereist, nachdem sie einen Dokumentarfilm über sie gesehen hatte. Darin hatte einer der Indios mit großer Eindringlichkeit in die Kamera und damit in ihre Augen geblickt, als er sagte: »Was macht ihr mit der Erde? Sie ist lebendig, und ihr tötet sie. Warum?«
    Genau das war die richtige Frage, Jade hatte es wie heute gespürt. Warum? Warum wollten sie immer schneller sein, warum so eilig vergessen, dass sie bestimmt waren, ein hohes Alter zu erreichen, warum die Zukunft verneinen und die Gegenwart in der blinden Angst leben, man könnte von der Vergangenheit eingeholt werden? Ja, warum? Die Absurdität des Lebens, von dem sie sich mitreißen ließ, erschreckte sie. Ein einziger Blick von Mamoune erfüllte sie mit ungeahnter Freude, errichtete einen Schutzwall gegen die Dummheit und die Ignoranz. Ein einziger Blick von Mamoune gab ihrem Verlangen einen Sinn: wissen zu wollen, warum man etwas tat.
    Mamoune war geheilt … Sie war nie krank gewesen. Sie würde niemals sagen wie jener hellsichtige Pensionär, mit dem Jade gesprochen hatte, als sie einen dieser Alpträume von Heim besichtigte: »Wissen Sie, Mademoiselle, sie behandeln uns gut hier, aber Sie werden sich langweilen, hier herrscht eine Atmosphäre wie auf dem Friedhof!« Ihre Großmutter musste nicht mehr davor zittern, einen weiteren Schwächeanfall zu erleiden, denn Jade hatte ihr versprochen: Gesund oder nicht, sie würde bei ihr bleiben können, solange sie wollte. Sie würde sie davor bewahren, so erbärmlich aus dem Leben zu scheiden. Die Bilder überstürzten sich in ihrem Kopf. Bei ihren Reportagen hatte sie viele Orte des Elends gesehen, aber erst heute verstand sie wirklich, was jene Frau damals gemeint hatte, die ihr beide Hände drückte, um sich nur dafür zu bedanken, dass sie mit ihr gesprochen hatte.

Mamoune
    S eit unserer ersten Verabredung, auf die noch weitere folgten, schreiben wir uns mehrmals täglich. Ich habe ihm nicht gesagt, wie sehr es mich jedes Mal wieder freut, ihm gegenüberzusitzen in den Restaurants, in denen er immer wie ein Stammgast begrüßt wird. Mit Jean habe ich nie in einem Restaurant zu Mittag oder zu Abend gegessen, auch mit einem anderen Mann nicht. Es gibt so viele Dinge, die ich noch nicht erlebt habe, und mir bleibt nur noch wenig Zeit, sie zu entdecken.
    Albert hat den Schleier der schändlichen Vergangenheit seines Vaters gelüftet, über die Henri nie ein Wort verloren hatte. Er war nicht erstaunt zu hören, dass ich

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