Fruehstueck mit Proust
denn im Laufe der Jahre bin ich fast zur Atheistin geworden. Ich glaube, heute werde ich lächelnd einschlafen.
J ade konnte es nicht fassen, dass Mamoune, ihre achtzigjährige Großmutter, sich verliebt hatte auf der Suche nach einem Verleger für sie. In wen, war übrigens ganz egal. Was Jade verunsicherte, war weniger die Person als die Tatsache als solche. Sie hatte Mamoune in eine Mutterrolle gesperrt, sie auf die traute Zweisamkeit mit ihrem Großvater Jean reduziert, der noch verschwiegener gewesen war als sie. Sie hatte in ihrem Herzen einen Platz als unveränderliche Ikone der Zärtlichkeit, gutmütig und ohne Leidenschaften. Schon mit ihrer unglaublichen Geschichte von der heimlichen Leserin hatte sie Jades Gewissheiten einigermaßen ins Wanken gebracht! Aber das hier ging nun wirklich zu weit! Wenn sie sich die Jugend ihrer Großmutter vorstellte, projizierte sie Bilder vom Leben auf dem Land, wo die Schulferien mit der Heuernte begannen und nach der Weinlese endeten und die Kinder drei Monate mit Feldarbeit verbrachten. Vor diesem Hintergrund gestand sie ihr durchaus gewisse Tollheiten zu, ein paar geraubte Küsse auf dem Heuschober … Aber dass Mamoune mit einem Unbekannten essen ging, der sie per E-Mail eingeladen hatte, das war zu viel für Jade. Sie weiß doch gar nichts über diesen Typen, hatte sie gedacht, aber nicht zu sagen gewagt. Er behauptet zwar, Verleger zu sein, und will mein Manuskript lesen, aber trotzdem, in ihrem Alter … Der Gipfel war, dass Mamoune erst vier Stunden später von diesem Essen zurückkam, beseligt wie ein schwärmerischerBackfisch. Ihre Wut und ihre Sorge schmolzen jedoch zunächst dahin, als sie eine Entdeckung machte, die ganz offensichtlich war: Man konnte sich bis an sein Lebensende verlieben. Vielleicht sagte das sogar noch weit mehr über die Geschichte eines Menschen aus. Solange es einen Hauch von Leben gab, war die Liebe möglich und forderte den Zufall heraus, erfüllt von derselben Kraft, derselben dummen Sorglosigkeit, denselben Verrücktheiten. Und wenn sie sich Mamoune so anschaute, musste sie zugeben, dass die Liebe in ihrem Alter ohne Ängste auszukommen schien, ohne die Seelenqualen, die jeden Verliebten zermürbten. Konnte es sein, dass späte Liebe anders war? Eine mit Gelassenheit erlebte Leidenschaft, ohne Ausflüchte und Koketterie …? Kurz, das Abenteuer von Mamoune, die einen zweifellos betören konnte, hätte Jade mit einem Glücksgefühl erfüllen müssen. Und doch ärgerte die Sache sie, und Jade fand nicht heraus, warum. Ich bin ihre Enkelin und habe schließlich keine Lust, wie ihre Mama vor der Eingangstür auf sie zu warten und mir Sorgen zu machen, dachte sie. Vielleicht nehme ich es ihr aber auch übel, dass sie innerhalb weniger Tage alles zunichtemacht, was ich über die Liebe zu wissen glaubte. Oder sollte ich sogar eifersüchtig sein …?
Liebe besaß ja auch eine körperliche Seite, aber diese Frage verdrängte Jade lieber. Was machte man als Achtzigjährige mit seinem Körper, wenn man in einen ebenfalls achtzigjährigen Mann verliebt war? Diese unbeantworteten Fragen und die Angst und der Abscheu, den sie in ihr erzeugten, machten Jade zu schaffen. Sie liebte Mamounes zarte, weiche Haut, aber es war ihr unangenehm, sich die Liebkosungen von alten, runzligenKörpern vorzustellen. Gewiss, das ging sie alles nichts an, und sie hatte nicht das Recht, sich da einzumischen. Aber auch sie war verliebt, und sie war dreißig! Sie verfügte über die volle Kraft der Jugend, dieses liebenden Körpers, und da kam Mamoune und warf ihr solche drängenden Fragen ins Gesicht, Fragen, die in den Zeitschriften, für die Jade arbeitete, konsequent verschleiert wurden. Wie kann man im Einklang mit seinem Körper altern? Was bleibt von den Freuden des Lebens und denen des Fleisches, wenn alles in einer mehr oder weniger fernen Vergangenheit hinter uns liegt? Wie soll man der Versuchung widerstehen, die Zeit durch komplizierte Schönheitsoperationen zu überlisten? Jade sah die Schauspielerinnen vor sich, die schon vor zwanzig Jahren älter waren als sie und es auch in zwanzig Jahren noch sein würden und trotzdem heute aussahen wie ihre Schwester und morgen wie ihre Tochter. Unter der Maske ihrer unzähligen Liftings zeigten sie ihre starren Gesichter auf den Hochglanzseiten der Frauenmagazine. Und versteckten die Hände, die ihr wahres Alter verrieten. So gesehen war Mamounes faltiges Gesicht, ihre Aura einer alten Indianerin, die sie
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