Fruehstueck mit Proust
von seiner Existenz nichts wusste, aber vielleicht wollte er sich auch nicht die Blöße geben einzugestehen, dass ihm das naheging. Meine Freundschaft zu seinem Bruder beruhte auf unseren Lektüren, über unser Leben sprachen wir nur wenig. Zwei oder drei Mal hatte Henri mir sein Bedauern darüber offenbart, dass er der großen Liebe nie begegnet war. Er hatte auch nie über seine Kindheit gesprochen. Und wenn ich Albert nun ihre gemeinsame Geschichte erzählen hörte, fiel es mir nicht schwer, mir das Gerede der Leute damals vorzustellen, als er mit seiner Mutter im Schloss wohnte. Der Adoptivsohn ähnelte zu sehr seinem großen Bruder. Die Mutter war sehr jung und Henri fast neunzehn, als Albert auf die Welt kam. Böse Zungen behaupteten sogar, Henri sei der Vater des Kleinen.
Dann machte Albert eine eigenartige Bemerkung. Er verglich das Schweigen und die Selbstverleugnung seiner Mutter mit meinem versteckten Leben. Da habe ich protestiert. Ich habe mich nicht versteckt! Ich kam regelmäßig ins Schloss, ich sah Henri und die kleine Clémentine, die inzwischen größer geworden war. Mein Jean wusste, dass ich mich mit der Familie angefreundet hatte, erklärte ich ihm. Ehrlich gesagt, ich war mit den meisten Eltern der Kinder, die ich hütete, befreundet. Bei manchen hatte ich sogar einen eigenen Platz in der Familie. Meine Freundschaft zu Henri war ohne Hintergedanken, und Jean sah mir wohl an, dass ich ihn nicht betrog, wenn ich viele Stunden fort war. Wieder auf Achse in deinen Bergen, sagte er lächelnd, wenn ich nach Hause kam. In meinen Bücherbergen, dachte ich im Stillen.
»Wie schön Sie sind«, sagte Albert plötzlich, während ich ihm meine Erinnerungen erzählte. Ich war so verunsichert, dass ich nur dumm kicherte. »Entschuldigen Sie, Albert, aber ich bin nie schön gewesen und werde jetzt mit achtzig auch nicht mehr damit anfangen. Hören Sie auf, so was zu sagen und vor allem zu denken, sonst muss ich ja glauben, Sie sind senil.«
Aber er ist weit entfernt von der Senilität, als er mir ausführlich beschreibt, wie seine Mutter sich für das Schloss entschied und damit für ein Leben als ledige Mutter, damit ihr Sohn sich eines Tages verwirklichen könne. Das war damals keine Kleinigkeit. Nur die Reichen konnten tun, was sie wollten. Das Beste für sein Kind zu wollen war es wert, zu schweigen und auf ein Leben als verheiratete Bäuerin zu verzichten.
»Später«, erklärte er mir, »habe ich versucht, mehrüber sie zu erfahren, ich wollte wissen, ob sie es nie bereut hätte, aber ich bemühte mich vergeblich.«
»Hat sie es Ihnen nicht gesagt?«
»O doch! Sie hat meine Frage mit einer anderen beantwortet: ›Was hätte ich gewonnen‹, hat sie gesagt, ›wenn ich dir einen armen Vater gegeben hätte, der weder seine Frau noch seine Kinder hätte ernähren können. Ich habe keine Bildung erfahren, mein kleiner Albert, aber ich bin nicht dumm. Reich oder arm, die Menschen werden von den gleichen Dämonen beherrscht. Der Graf hat seine Triebe ausgelebt, aber den Schatz hat er mir vermacht. Und mein Schatz bist du. Du wirst glücklicher sein als dein Vater, und du wirst mehr Glück haben als sein legitimer Sohn, der das Erbe bekommt und die Sorgen dazu. Du, mein Engel, wirst frei und gebildet sein, ernährt und erzogen im Schatten seines Schuldgefühls.‹«
In diesem Moment verstand ich die Doppelbedeutung seines Verlagsnamens
En lieu sûr
… Es war der Titel eines Romans des amerikanischen Schriftstellers Wallace Stegner. Aber vor allem birgt dieser Name die Erinnerung an die Mutter, die ihn für immer in Sicherheit brachte, im Tausch gegen ihr Schweigen und den Verzicht auf ihr Leben, in einem Schloss, in das er nie zurückgekehrt ist.
Wie sehr muss Henri diesen Bruder beneidet haben, der sein Leben leben konnte, indem er seine Träume in Projekte und diese Projekte in die Wirklichkeit umsetzen konnte!
Dann erzählte ich Albert von dem Leben, das Henri auf seinem Schloss geführt hat. Seine langsame Agonie neben einer Frau, die er nicht hasste, wie er sagte, dennsie war nicht schuld an der Langeweile, mit der sie sich und ihn einhüllte. Während des Erzählens erlebte ich noch einmal die glücklichen Momente unserer Gespräche über Diderot, Montaigne oder Joyce. Überrascht stellte Albert fest, dass sein Bruder mich sogar in die amerikanischen Autoren eingeführt hatte. »So ein Gauner!«, rief er, »und zu mir hat er gesagt, er wolle sie nicht lesen, als ich ihm Bücher von den Großen
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