Fuenf Frauen, der Krieg und die Liebe
winziges Zimmer unter dem Dach. Einem gutmütigen Impuls folgend hatte sie die beiden schmalen Betten, die kaum in die Kammer passten, mit ihrer besten gestickten Bettwäsche bezogen, die oft für Hochzeitsnächte ausgeliehen wurde. Johnnys Bettchen war auf dem Treppenabsatz aufgestellt. Tanni strich mit der Hand über die Laken. »Was für eine wunderbare Stickerei, sie erinnert mich an … oh, Tante Berthe, lass mich nicht länger warten. Welche Neuigkeiten hast du von Lili und Klara?«
»Du musst Geduld haben. Rachel ist die Einzige, die deine Fragen beantworten kann. Sie kommt mit ihrer Familie zum Sederabend, dann kannst du mit ihr sprechen.«
Als Tanni die Reisetasche aufmachte, um Tante Berthe ihre Lebensmittelmarken zu geben, glitt das seidene Negligé zu Boden. Tante Berthe lächelte in sich hinein. Sie freute sich, dass sie junge Leute im Haus hatte – und wer weiß? Vielleicht würde sich ja bald wieder Nachwuchs ankündigen. Sie kniff Tanni liebevoll in die Wange. Sie würde dafür sorgen, dass sie ein bisschen mehr auf die Rippen bekam – für alle Fälle …
Später kamen so viele Freunde der Cohens und drängten sich um den Sedertisch, dass das Wohnzimmer brechend voll war. Rachel kam schließlich auch, zusammen mit ihrer Mutter, ihrem Mann und ihrem vierjährigen Sohn. Sie war schwanger und so dick, dass alle aufstehen und sich an die Wand drücken mussten, um sie durchzulassen. Die Kerzen wurden angezündet und nach dem Kiddusch zierten sich alle ein wenig und taten so, als würden sie den ersten Becher Wein ablehnen. Die Gläser wurden wiedergefüllt und Rabbi Cohen setzte den traditionellen Ablauf des Seder mit der Haggada und den rituellen Speisen fort: Da waren der Lammknochen, die Mazzen, die Petersilienzweige, die Scheibchen der Meerrettichwurzel. Diese aßen sie mit Tante Berthes speziellem Charosset, nach einem Rezept, das auf der mütterlichen Seite ihrer Familie seit Generationen weitergereicht wurde. Es enthielt getrocknete Äpfel und Datteln, Rosinen, Gewürze und Wein. Rabbi Cohens Stimme zitterte vor Emotionen, als er die rituellen Fragen beantwortete, die von Rachels kleinem Sohn gestellt wurden, weil Johnny noch zu klein war. Als sie bei den hart gekochten Eiern angelangt waren, die in Salzwasser getunkt wurden, weinten alle am Tisch um ihre Lieben auf dem europäischen Festland, die den Nazis auf Gedeih und Verderb ausgeliefert waren.
Schließlich wischte sich Tante Berthe die Augen und stand auf, um die weiteren Speisen aufzutragen. Mit der Zubereitung hatte sie Tage zugebracht. Die meisten Gäste hatten ihr für einen Tag ihre Lebensmittelmarkenhefte geliehen und sie war durch ganz Whitechapel gelaufen und hatte bei Gemüsehändlern und koscheren Metzgern gebettelt, geschmeichelt und gedroht, um das zu bekommen, was sie brauchte. Tanni stand auf, um ihr zu helfen.
Bald bog sich der Tisch unter der Last der Speisen und Tanni staunte, dass Tante Berthe trotz der Rationierungen ein solches Festmahl auf die Beine gestellt hatte. Es gab Rote-Beete-Suppe mit Eierstich, gefilte Fisch mit Meerrettich, gehackte Leber, süßsaures Hähnchen, Zimmes mit Rinderrippen, einen Kartoffelkugel und einen Gemüsekugel. Außerdem gab es Auberginensalat und dann Bratäpfel, gefüllt mit Dörrobst, und einen mit Honig getränkten Biskuitkuchen. Und schließlich förderte Tante Berthe noch einen Teller mit winzigen Makronen zutage. Danach sprachen alle zusammen den Segen und tranken den dritten Becher Wein.
Tanni war keinen Alkohol gewöhnt, auch nicht in so kleinen Mengen, und so war sie leicht benommen, als sie die abschließenden Gebete und Lieder sangen. Ihren vierten Becher Wein schmeckte sie kaum noch, ihre Wangen waren rosig und sie war ein wenig unsicher auf den Beinen, als sie aufstand, um Tante Berthebeim Abräumen des Tisches zu helfen. »Gleich gehe ich und rede mit Rachel«, flüsterte sie Bruno ins Ohr.
»Nein, jetzt hilfst du Tante Berthe und dann rede ich mit Rachel«, sagte Bruno in entschiedenem Ton, »während du Johnny zu Bett bringst. Ich komme bald nach oben.«
Tanni gehorchte wie im Traum und Rachel folgte Bruno in das Arbeitszimmer des Rabbi. Sie hatte diesen Augenblick gefürchtet.
»Egal, was ihr herausgefunden habt, Tanni war sehr krank«, begann Bruno, »und wir müssen dafür sorgen, dass sie nicht wieder krank wird. Sie fühlt sich für ihre Schwestern verantwortlich – sie hofft und glaubt, dass sie in England sind und dass euer Komitee nur herausfinden
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