Fuenf Frauen, der Krieg und die Liebe
Bis heute waren sie ihr noch gar nicht aufgefallen. Sie zeigte sie Johnny, dann nahm sie ihn mit in ihr Bett, kroch mit ihm unter die Decke und sang leise ein Lied in Johnnys weiches Haar. Johnny spielte Kuckuck, strampelte und lachte.
Sie war so glücklich! Gestern war überraschend ein Telegramm von Bruno gekommen. Er hatte über das Passahfest unerwartet einpaar Tage Urlaub. Heute kam er, um sie und Johnny abzuholen und nach London zu fahren, um bei den Cohens in Bethnal Green das traditionelle Sedermahl einzunehmen. Seit sie London verlassen hatte, hatte sie Bruno erst zweimal gesehen. Beide Male war sie mit Johnny im Zug nach Cambridge gereist, doch sie hatte immer nur ein paar Stunden mit Bruno verbringen können, bevor er unvermittelt weggerufen wurde. Dann fuhr sie wieder nach Hause und fühlte sich einsamer denn je. Bitte, dachte sie, mach, dass Brunos Urlaub diesmal nicht gestrichen wird. Er rief zwar an, sooft er konnte, doch sie hatte ihn so lang nicht gesehen.
Außerdem wollte sie die Cohens unbedingt sehen. Sie waren ein paar Monate in einem Lager auf der Isle of Wight interniert gewesen. Nachdem ein Tribunal zu der Auffassung gelangt war, dass ein Rabbi und seine Frau im fortgeschrittenen Alter keine gefährlichen feindlichen Ausländer oder deutsche Spione waren, durften sie jedoch schließlich nach Hause zurückkehren. Die Cohens waren froh, nach Hause zu kommen, doch das Erlebnis hatte ihnen arg zugesetzt. Tante Berthe konnte nicht begreifen, wie die Behörden glauben konnten, dass Juden Agenten der Nazis seien. Sie freuten sich, als Tanni schrieb, dass die Menschen in Sussex sehr freundlich seien und Johnny von allen geliebt werde.
Evangeline war sofort angetan von dem kleinen Jungen und auch Alice war auf ihre etwas herrische Art freundlich. Sie kam und fragte, ob Tanni etwas brauchte, brachte Broschüren über Orangensaft und Lebertran und eine englische Grammatik mit. Tanni fiel allerdings auf, dass Alice Evangeline nicht mochte und kaum ein Wort mit ihr wechselte. In den Wochen nach ihrer Ankunft in Crowmarsh Priors hatte sich Tanni alle erdenkliche Mühe gegeben, um niemandem zur Last zu fallen, und oft überkam sie die gleiche Traurigkeit, die sich nach Johnnys Geburt über sie gesenkt hatte. Das Englischbuch und die Broschüren staubten auf ihrem Nachttisch ein und sie konnte sich nur mit Mühe aufraffen, Johnny seinen Orangensaft zu geben. Schwester Tucker schaute so oft vorbei, wie ihr voller Terminkalender es zuließ, und versicherte ihr, dass Mütter sich nach einer Geburt oft so fühlten, doch Tanniwar davon überzeugt, dass diese dunklen Gefühle ihre eigene Schuld waren.
Dann hatte sie sich nach und nach angepasst und in den letzten Monaten ging es ihr besser. Sie ähnelte der Tanni von früher und Johnny wuchs und gedieh.
Evangeline und Alice waren ihre Freundinnen, auch wenn die beiden nicht miteinander befreundet waren. Sie hatte einen Weg gefunden, wie sie sich nützlich machen konnte. Sie küsste das Foto ihrer Familie, das am Spiegel lehnte. Wenn Bruno sie nach London brachte, konnte sie Rachel fragen, wo in England sie waren. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie wieder mit ihnen vereint war.
Vor lauter Freude auf ein Wiedersehen mit Bruno bekam sie kaum etwas von ihrem Tee und Toast herunter. Nach dem Frühstück nahm Evangeline Johnny mit, als sie die größeren Kinder zur Schule begleitete, damit Tanni sich fertigmachen konnte. Sobald sie sich auf den Weg gemacht hatten, läutete es an der Haustür. Es war Alice. Sie war auf dem Weg zur Schule und reichte Tanni ein Paket, das in braunes Packpapier eingewickelt war. Darin fand Tanni einen Pullover und eine Mütze für Johnny, die Alice aus schwerer geölter Wolle gestrickt hatte. Das Wollgarn hatte sie von den Vorräten der Dorcas-Gesellschaft abgezweigt. Tanni dankte ihr überschwänglich und umarmte sie.
Sobald Alice weg war, ließ sie sich ein Bad ein. Dabei achtete sie peinlich genau darauf, die Wanne nicht höher als bis zu der Zehn-Zentimeter-Markierung zu füllen, die auf der Innenseite aufgemalt war. Dann wickelte sie sich in ihren blauen Morgenmantel, wusch sich die Haare und spülte sie mit Essig aus, damit sie glänzten.
Als Evangeline und Johnny wiederkamen, trocknete sie sich gerade die Haare vor dem Feuer. Wieder ging die Türglocke. Diesmal war es Frances in ihrer Uniform der landwirtschaftlichen Helferinnen. Sie hielt Tanni eine elegante Schneiderschachtel entgegen. Auf dem Deckel stand in
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