Fünf Kopeken
dass das alles tatsächlich passiert war, war der Spreißel in ihrem Knöchel. Er saß nicht besonders tief, es wäre ein Leichtes gewesen, ihn herauszuziehen. Aber meine Mutter schob ihn nur noch tiefer ins Fleisch. Wie um sich ihrer Tat zu vergewissern, strich sie pausenlos darüber, lupfte das Häutchen an, das sich in der Nacht darübergelegt hatte, bohrte mit angespannter Miene die Nägel hinein. Um die schwarze Spitze, die wie ein Gipfelkreuz auf schneebedecktem Berg aus dem Eiter ragte, bildete sich ein flammendroter Kranz, der sich immer weiter entzündete, bis das Holzstückchen endlich herausgeschwemmt wurde. Aber meine Mutter konnte noch immer nicht die Finger davon lassen, krubbelte die Kruste ab, bis es erneut zu bluten begann, drückte eins der runtergefallenen Taschentücher meines Vaters darauf, nur um zwei Minuten später wieder daran herumzufummeln. Am Ende sollte sie eine Narbe davon behalten, einen großen, verfransten Fleck, der noch weißer war als der Rest ihrer Haut und von dem sie mir in meiner Kindheit erzählte, er stamme von einer Felsspalte, in die sie beim Wandern gerutscht sei.
Noch war die Wunde jedoch hellrosa. Noch bestand die Möglichkeit, dass sie vollständig heilen würde, als sei nie etwas gewesen. Und wer weiß, vielleicht wäre sie das tatsächlich, wenn mein Vater sich nur ein bisschen beeilt hätte. Wenn meine Mutter einfach wieder zu ihrem normalen Leben hätte zurückkehren können und nicht soviel Zeit gehabt hätte, sich selbst zu malträtieren. Aber Arno blieb seinem mangelnden Durchhaltevermögen treu. Mal ging es ihm ein paar Stunden besser, dann stieg sein Fieber wieder und er schwitzte so, dass meiner Mutter die Ausdünstungen seiner Liebe kaum erträglich waren. Je länger seine Genesung dauerte, umso sicherer war sie sich, dass er mit Absicht krank geworden war, nur um sie an sich zu fesseln. Dass das alles ein Trick war. Dass er sie einfach davon abhalten wollte, nach oben zu gehen.
»Wolltest du denn nach oben gehen?«, fragte ich.
»Ich hätte zumindest gerne nach oben gehen können«, antwortete sie.
»Aber hättest du es denn gemacht, wenn der Papa nicht da gewesen wäre?«
» Der Papa ? Wo kommt das denn jetzt plötzlich her?«, sagte sie und bemühte sich sichtlich, sich etwas aufzuregen.
Im Grunde blieben ihr nur zwei Gelegenheiten, das Haus zu verlassen. Die erste war das Holen der Post. Vor zehn brauchte man mit der nicht zu rechnen, meistens wurde es elf, aber spätestens, wenn Arno, vom Frühstück gestärkt, wieder mit seiner Fragerei anfing, rief sie krampfhaft unverkrampft »ich seh mal nach, ob die Briefträgerin schon da war«, und lief hinaus.
Sie ging sehr langsam, weil sie ja doch noch ein bisschen krank war, wie sie sich sagte. Weil sie die Zeit, in der sie ihn treffen konnte, so weit wie möglich in die Länge ziehen wollte, wie ihr ihr Körper sagte, der vor Aufregung zitterte. Sie hielt sich am Geländer fest, setzte auf jeder Stufe beide Füße auf. Hielt inne, um zu verschnaufen. Und kam doch immer viel zu schnell unten an.
Sie schloss ihren Briefkasten auf, nahm die Umschläge heraus, friemelte noch unten die Laschen ab. Sie zog die Bögen heraus, faltete sie auseinander, tat so, als würde sie das Angebot der Brandenburger Leben, ihre »Zukunft heute noch finanziell absichern!« zu lassen, mächtig interessieren. Sie schaute zur Treppe, in den Innenhof, fragte sich, welcher der Briefkästen wohl seiner sei. Und stellte erschrocken fest, dass sie nicht mal wusste, wie er hieß.
Den aufgeschlagenen Briefbogen vor dem Gesicht wie ein etwas dümmlicher Fernsehdetektiv, lugte sie zu den Schildern, suchte nach einem Namen, der ihm gehören könnte. Aber außer einem »Ambuktu, H.« war nichts dabei, was irgendwie ausländisch klang.
»War nichts Besonderes dabei«, rief sie, als sie endlich zurück in die Wohnung kam, und lief ins Schlafzimmer, um Arno zum Beweis den Brief unter die Nase zu halten. Aber der schlief mal wieder tief und fest. Was ihr die Möglichkeit gab, eine Stunde später gleich noch mal runterzugehen.
Es brauchte noch mal eine ganze Woche, bis sie den Zufall endlich genug gequält hatte, dass er ihn ihr in die Arme trieb.
Sie war gerade dabei, den Müll runterzubringen – die zweite Gelegenheit, das Haus zu verlassen, auch wenn sie jedes Mal ganz schön lange suchen musste, bis sie etwas fand, was sie den Taschentüchern im Eimer hinzufügen konnte. Sie aßen kaum, verbrauchten nichts, der Zwei-Liter-Sack war
Weitere Kostenlose Bücher