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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Stricker
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Schultern, hat noch immer nicht genug, bis sie endlich das Wort aus dem Keller holt, das sie so ängstigt. Aber jetzt, hier auf Arnos Rücken, hat sie endlich den Mut, es auszupacken. Sie braucht lange, um es zu schreiben. Ihre Linke will ihr nicht recht gehorchen. Immer wieder verwackeln ihr die Buchstaben auf seinem Steißbein, sodass sie von vorne anfangen muss. Erst als alle fünf klar und deutlich nebeneinanderstehen, lässt sie die Arme sinken. Aber Arno ist schon eingeschlafen. Sein gleichmäßiger Atem schlägt warm an ihren Hals, während ihr Mund mit Tränen vollläuft.

10. Kapitel
    Ilse hatte recht gehabt. Wut war tatsächlich leichter zu ertragen als Trauer. Oder Angst. Oder Sehnsucht. Oder wie das sonst hieß, was ihr den Magen zusammenschnürte. Meine Mutter hatte keine Übung im korrekten Bestimmen von Sinnesempfindungen. Ein bisschen fühlte es sich an wie Hunger, eine Gier, die ihr Körper vergessen hatte. Oder nie gekannt. Eine unbestimmte Unruhe, die sich auch durch noch so viel Rumgerenne nicht vertreiben ließ.
    Aber eins half: Wut. Eine schier unbändige Wut auf meinen Vater, der sich natürlich tatsächlich angesteckt hatte. Jetzt hatte sie ihn zu pflegen, so wie er sie gepflegt hatte. Musste ihm die verschwitzte Stirn tupfen, Saft einflößen und Großmuttersuppe zuführen. Auch wenn er sie natürlich mehrfach täglich aufforderte, es nicht zu tun. »Geh ruhig arbeiten«, hauchte er und griff mit seinen Fliegenbeinfingern nach dem Löffel, »ich komm schon zurecht«, sagte: »Ich weiß doch, dass du nicht den ganzen Tag zu Hause sitzen möchtest. Mach dir um mich keine Sorgen«, »Ich sterb schon nicht, wenn du mich mal kurz allein lässt.«
    »Geht schon!«, sagte meine Mutter, zog ihm den Löffel wieder weg und die Mundwinkel nach oben. Aber mein Vater ließ sich viel Zeit mit dem Gesundwerden. Er bekam Husten und Fieber und genauso entzündete Augen wie meine Mutter. Und natürlich vergaß er irgendwann, dass er selbst daran schuld war. Vielmehr begann er, seine verstopfte Nase für einen Liebesbeweis zu halten. Wenn meine Mutter ihn fragte, wie es ihm gehe, achtete er peinlichst darauf, von ihrer Krankheit zu sprechen, von ihrem Husten, ihrem Fieber, ihren entzündeten Augen. »Deine haben sich mittlerweile beruhigt, was?«, hängte er mit einem tapferen Lächeln an, als habe er ihr die Krankheit tatsächlich abgenommen. Aber natürlich meinte er es auch damit mal wieder zu gut. Schwächlich wie er von Haus aus war, hatte er es geschafft, sich zusätzlich zu ihrer Erkältung noch einen Magendarminfekt einzufangen. Alle paar Minuten rannte er aufs Klo, wobei er alle paar Meter Taschentücher fallen ließ, als habe er Angst, den Weg nicht zurück zu finden. Meine Mutter sammelte sie ein, desinfizierte die Toilette, spülte das Geschirr. Erst wenn sie sich sicher sein konnte, dass er wieder eingedöst war, schlich sie auf Zehenspitzen ins Schlafzimmer und kroch vor den Vorhang, sein Schnarchen im Rücken, das fast etwas Beruhigendes hatte, als sei sie eine Mutter, die über den Schlaf ihres Kindes wachte  – was meine Mutter nie machte, selbst dann nicht, wenn ich sie darum bat.
    »Ich kann doch nicht ewig hier sitzen und warten, bis was passiert«, sagte sie.
    »Du sollst ja auch nicht hier sitzen, bis was, sondern damit nichts passiert«, sagte ich.
    »Geh ma fort, für so was hab ich keine Zeit«, rief sie ungeduldig und lief aus dem Zimmer, was ich ihr jahrelang übel nahm, bis ich verstand, dass sie tatsächlich nicht anders konnte. Dass sie sich einfach am Warten verschlissen hatte. Dass nichts mehr übrig war, als habe sie das Soll für ihr Leben bereits aufgebraucht, in diesen Tagen, in denen sie wieder und wieder aus diesem Fenster starrte. Und aus dem im Arbeitszimmer. Und aus dem in der Küche, ein Alibibuch in der Hand, für den Fall, dass Arno überraschend aufwachen würde. In denen sie, aufgeschreckt von einem Geräusch im Treppenhaus, in den Flur rannte und sich mit hungrigen Augen ans Guckloch drückte, stillstand, standhielt. In denen die Tochter meines Großvaters schreckliche Qualen litt. Und die Tochter meiner Großmutter die Angst zu lieben lernte. Angst, ihn nicht mehr wiederzusehen. Angst, ihn doch zu sehen und keine Angst mehr haben zu brauchen. Angst, die ihren ganzen Körper erfüllte, sie jeden Wirbel einzeln spüren ließ, die sie von morgens bis abends begleitete, während er immer weiter verschwunden blieb.
    Der einzige Beweis, dass es ihn überhaupt gab,

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