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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Stricker
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passiert?«
    »Überfahren«, sagt meine Großmutter, »von der Tram.« Sie kratzt den letzten Rest aus dem Teller und befördert ihn zwischen die Lippen meiner Mutter, die ein wenig zittern, aber zum Glück achten die beiden nicht mehr auf sie. »Anscheinend ist er vor irgend so nem Köter weggelaufen und dabei auf die Gleise gerannt.« Sie wirft meinem Vater wieder diesen tadelnden Blick zu. »Ich hätt’s euch ja schon früher erzählt, aber ihr meldet euch ja nicht.«
    Arno legt meiner Mutter die zweite Hand auf den Arm. Die Suppe scheint in ihrem Inneren wieder nach oben zu kochen. »Können wir denn irgendwas tun?«
    »Ich hab schon einen Kuchen runtergebracht«, sagt meine Großmutter und lacht verdruckst. »Nicht, dass es der Frau schaden würde, mal ein bisschen zu fasten.«
    Sie fährt fort, ihre Suppe in meine Mutter hineinzulöffeln, erzählt, dass die Nachbarsfrau gar nicht mehr aus dem Haus käme, nicht mal zur Beerdigung habe man sie aus dem Bett gekriegt. »Und der Mann sieht aus, als hätte er unter der Brücke geschlafen. Völlig zerlumpt. Eine Schande ist das!«
    Dann wird ihr die Anteilnahme meines noch immer kopfschüttelnden Vaters aber allmählich doch zu viel, und sie kommt wieder zu ihren eigenen Problemen, also denen meiner Mutter, um die sie sich ganz furchtbar sorge, nein, vielmehr schon seit Tagen gesorgt habe, denn, »ihr werdet es nicht glauben!«, sie habe ja schon die ganze Zeit gespürt, ganz deutlich gespürt, dass etwas nicht stimme, das Band zwischen einem Kind und seiner Mutter sei eben unzertrennlich. Und jetzt, wo Arno ihr »endlich!« Bescheid gesagt habe, da sorge sie sich natürlich erst recht. Wie solle sie, also meine Mutter, nur den ganzen Stoff aufholen, den sie in der Uni verpasse? Und das Examen! Und die neue Filiale! Und ach herrje, die neue Verkäuferin! Einer müsse die doch einarbeiten. Was, wenn meine Mutter noch länger flach liege? »Am Ende bleibt ja doch wieder alles an mir hängen!«
    »Jetzt mal langsam«, sagt mein Vater, der den Text ja schon kennt, sowohl ihren als auch seinen, »das wird schon.«
    »Hast du eine Ahnung«, wischt meine Großmutter seine Bemerkung beiseite. »Ich bin völlig am Ende. Wenn du wüsstest, was ich in der letzten Zeit für Zeugs zusammenträume!«
    »Das scheint wohl wirklich in der Familie zu liegen«, sagt mein Vater und lacht. Er streichelt meiner Mutter über den Rücken. »Ich möchte nicht wissen, vor was du gestern Nacht wieder weggerannt bist. Ein paar Mal hast du sogar laut geschrien«  – soviel zur Kindersicherung  – »und dabei haben die ganze Zeit deine Füße gezuckt.«
    »Gut, dass du mich erinnerst!«, ruft meine Großmutter und rennt wieder los, um eine Wärmeflasche zu holen, damit meine Mutter auch keine kalten Zehen kriegt, denn »damit ist nicht zu spaßen! Gute Besserung übrigens auch vom Papa.«
    Meine Mutter schiebt die Hand auf die Augen. In Zeitlupe ziehen die Erinnerungen an ihr vorbei. Und endlich schafft sie es auch, die Tonspur darunter freizulegen. Das Schreien, die weinende Menschenmenge, die Musik am Restaurant, die Kellner davor.
    Das ist es, deshalb war er neulich so elegant angezogen, die Fliege, die schwarze Weste, er ist ein Kellner, er kellnert da, in dem Restaurant auf der anderen Straßenseite, denkt sie, während meine Großmutter sich verabschiedet, nicht ohne Arno das Versprechen abzunehmen, sie stündlich, »hörst du, alle 60 Minuten!«, anzurufen und auf dem Laufenden zu halten.
    »Irre, das mit dem Nachbarsjungen, was?«, sagt er, als er zurückkommt. »Man merkt wirklich erst, wie flüchtig das Leben ist, wenn so etwas passiert. Hast du Kopfschmerzen?«
    »Geht schon«, sagt meine Mutter und zieht erschrocken die Hand von der Stirn.
    Er betrachtet sie so eindringlich, dass sie sich ganz sicher ist, dass er alles sehen kann, ihren nackten Po, die Lippen, die über die Bretterwand schrabbeln. Sie hält die Luft an, wartet darauf, dass er etwas sagt, dass er sie zur Rede stellt.
    Aber er steht nur auf und schließt das Fenster.
    »Schlaf noch ein bisschen«, sagt er und stopft die Decke unter die Matratze.
    Meine Mutter nickt wieder, schaut ihm nach, während er aus dem Zimmer läuft und behutsam die Tür schließt. Aber an Schlaf ist jetzt nicht mehr zu denken. Jetzt, wo sie wieder denken kann. Jetzt, wo sie gar nicht mehr damit aufhören kann.
    Warum bist du denn so überrascht? Hast du dir etwa eingebildet, er sei wegen dir da gewesen? Mach dir doch nichts vor! Was er

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