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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Stricker
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so leer, dass sie ihn mit dem kleinen Finger hätte tragen können.
    Trotzdem kracht er ihr aus der Hand, als wöge er eine Tonne, als sie auf einmal seine Stimme im Vorderhaus hört.
    Das Erste, was sie sieht, ist seine Jacke. Wie eine Kugel hat er sie auf dem Arm zusammengerollt. Der Pelz bauscht sich auf, als würde er ein Tier mit sich herumtragen. Mit dem anderen Arm hält er die Tür auf, genau wie er es an jenem Abend für sie gemacht hat.
    Der eine Teil meiner Mutter möchte wegrennen, der andere Teil will zu ihm hin, stattdessen gewinnt, was sie doch so hasst, die Mitte. Wie angewurzelt bleibt sie neben den Mülltonnen stehen und hört, wie er weiterredet, wie er zu lachen beginnt, sieht, wie er den Ellenbogen noch weiter nach oben schiebt, um die Frau darunter durchzulassen, die ihm nachkommt, neben ihm hergeht, so dicht, dass sie zweimal mit der Hüfte an ihn stößt. Aber das kann auch an den absurd hohen Absätzen liegen, die sie trägt. Im Gegenlicht sieht sie aus wie eins von den jungen Mädchen, die schon mittags in der Kurfürstenstraße stehen. Ihre Beine reichen ihr mindestens bis zum Hals, die Haare bis zum Po, dazwischen trägt sie etwas von der Größe eines Küchenhandtuchs. Erst als die Tür hinter den beiden ins Schloss fällt und das Licht von der Straße aussperrt, sieht meine Mutter das flächige Gesicht, das fast so alt wirkt wie das meiner Großmutter, was wahrscheinlich übertrieben ist, aber doch sehr alt und sehr, sehr bunt. Ihre Lippen glänzen leuchtend pink, die Haut drum herum auch, als wäre ein Kind mit dem Stift über die Linie hinausgerutscht. Erst als sie sich zum zweiten Mal zur Seite dreht und ihn am Arm stößt, merkt meine Mutter, dass sie sie gesehen hat und im nächsten Moment er wohl auch, selbst wenn sich in seinem Gesicht kaum eine Reaktion ausmachen lässt. Seine Augen sind von einer Sonnenbrille verdeckt. Zusätzlich wirft das Hausdach einen breiten Schatten auf seine Wangen, sodass meine Mutter sich später, also in nicht mal einer halben Minute, immer wieder fragen wird, ob er vielleicht nur deshalb so finster gewirkt hat. Was dazwischen passiert, ist so wenig, dass sie es mit unendlich viel Bedeutung auffüllen muss, um es überhaupt zu einer Szene zusammenzuhalten:
    Da ist erst er, wie er ganz leicht das Kinn nach oben bewegt.
    Dann kommt sie selbst, wie sie die Mülltüte nach oben zieht, die gerissen ist, sodass der halbvolle Joghurt vor ihr auf den Asphalt tropft.
    Und schließlich das alte Mädchen, das offenbar als Einzige etwas zu sagen hat, auch wenn meine Mutter nicht versteht, was. Aber auch er geht nicht darauf ein, fährt sich nur durchs Haar, das jetzt schon so lang ist, dass man es als braun erkennen kann, während das Mädchen ungeduldig mit den Knien wackelt.
    Meine Mutter öffnet den Mund, fasst sich an den Kehlkopf, der in ihre Finger pocht. »Schönes Wochenende«, kommt es endlich klebrig zwischen ihren Lippen hervor.
    Sein Kinn bewegt sich wieder nach oben. Dann geht er an ihr vorbei, hält erneut dem Mädchen die Tür auf, das sich immer wieder nach meiner Mutter umdreht, bis es endlich unter seinem Arm durchschlüpft.
    Meine Mutter schaut ihnen nach, sieht die verschwommenen Silhouetten hinter den Glasbausteinen, im ersten, im zweiten, ganz kurz auch im dritten Stock. Erst als sich oben ein Fenster öffnet, reißt sie die Tonne auf und schmeißt die Mülltüte hinein.
    Sie läuft nach oben, schließt auf, fährt sich über die Augen, dabei hat sie doch eben noch den Müll angefasst!, was ist denn nur los mit ihr?, sie wirft die Tür hinter sich zu und stürzt ins Bad, hält sich am Waschbecken fest.
    »Hallo?«, hört sie Arno, der offenbar endlich aufgewacht ist.
    Ausgerechnet jetzt, denkt sie ärgerlich.
    Und das hilft ein bisschen.
    »Ich komm gleich!«, ruft sie und dreht den Hahn auf. Seift sich die Hände ein. Merkt zum ersten Mal, dass die Sektspuren ganz verschwunden sind. Sie klatscht sich Wasser in den Nacken, auf die Stirn, trocknet sich so lange ab, dass Gesicht und Arme völlig rotgerubbelt sind, als sie endlich das Schlafzimmer betritt.
    Arno sitzt aufrecht im Bett. »Ich glaube, es ist vorbei«, sagt er und strahlt.
    »Wie schön«, erwidert meine Mutter, »ich geh und wärm dir was von der Suppe auf«, aber mein Vater möchte jetzt keine Sekunde mehr allein im Bett bleiben.
    »Ich möchte jetzt keine Sekunde mehr allein im Bett bleiben«, ruft er und kommt hinter ihr her in die Küche gelaufen.
    Im Schlafanzug sitzt er am

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