Fünf Kopeken
Zeichnen. Natürlich war meine Mutter auch dafür viel zu jung und natürlich wusste im Nachhinein keiner, wie jung genau, aber will man die Chronologie, die mein Großvater im Laufe der Jahre aufgebaut hat, nicht völlig aushebeln, muss der Zeitpunkt im Grunde noch vor ihrer Geburt liegen. In jedem Fall fand meine Großmutter eines Tages eine Bleistiftzeichnung auf dem Boden, was umso erstaunlicher war, als sich niemand erinnern konnte, meiner Mutter auch nur ein Blatt Papier geschweige denn einen Stift gegeben zu haben, und natürlich war sie mit minus zwei zu klein, um es selbst aus der Schublade zu holen. Meine Großmutter fand also die Zeichnung einer kleinen Figur, die ihr haargenau glich (meiner Großmutter, nicht meiner Mutter, auch dafür war sie schon klug genug, um zu wissen, dass von einem Selbstporträt keine Begeisterungsstürme zu erwarten waren), haargenau, die Perlenohrringe, der Spitzenkragen, die nervösen Flecken am Hals, was meine Großmutter jetzt nicht so begeisterte. Und noch weniger, dass mein Großvater das Ding auch noch rahmte und in den Eingang hängte, gleich neben die Garderobe, wo es jeder sofort sehen musste.
»Eine Künstlerin, das hatten wir bei den Schneiders noch nie«, rief er.
Aber da begann meine Mutter auch schon Rad zu schlagen, einfach so, mit zwei, einer, dann ganz ohne Hände, sodass er loslief und eine alte DDR -Turnerin auftat, die nach der Weltmeisterschaft nicht mehr zurückgefahren war und meine Mutter solange mit ihrer Testosteronstimme malträtierte, bis die sich wie eine Gummipuppe verbiegen ließ. Beine vor, hinter, um den Kopf herum, Spagat, hoch, runter, unten durch. Schöner machte sie aber auch das nicht. Eher wurde sie sogar noch ein bisschen knochiger. Wenn sie, kaum dass die Siegerehrung vorüber war, zur Tribüne rannte, damit mein Großvater den Triumph mit einem »gut gemacht!« auch beglaubigen konnte, schlugen ihr die Medaillen gegen die Rippen, dass es schepperte. Dann wurde sie im Trainingslager von einer besorgten Begleitmutter gefragt, ob man ihr zu Hause denn auch genug zu essen gäbe, sodass man sich schnell dem nächsten Talent widmete, diesmal ihrer Stimme, die wirklich wunderschön war. Und natürlich mal wieder viiiel zu reif für ihr Alter.
Wieder wurde ein Privatlehrer gesucht und dann ein zweiter, weil der erste es sich hatte einfallen lassen, ihr unter jedes auswendig gelernte Lied ein Sternchen zu kleben, womit er seinen Job gleich wieder los war. Sein Nachfolger war ein ehemaliger Opernsänger, der mit meiner Mutter sehr viel atmete und sehr, sehr wenig sang, was mein Großvater erst als »Unfug«, »Zeitverschwendung«, ja »Betrug!« bezeichnete, nachdem er im Flur des Lehrers ein Foto entdeckte, auf dem selbiger in einem Monstrum aus grünen und gelben Federn neben Demgöring posierte, dann aber doch als einzig wahre Methode anerkannte. Auch wenn er »in der Sache« … Aber das hatten wir ja schon.
»Ich weiß nicht, ich weiß nicht«, sagte die Gundl, die mittlerweile die Brigitte abonniert hatte. »Das Mädel ist ja ständig unter Strom. Ihr müsst sie doch mal zur Ruhe kommen lassen.«
»Otium est pulvinar diaboli«, sagte mein Großvater und guckte stolz, weil er der einzige Mann auf der Welt war, der Latein sprach.
Er mästete sein Ego an den Wundertaten meiner Mutter, und je mehr es anschwoll, desto hungriger wurde er. So sehr, dass er, der die letzten 20 Jahre jedem, der es hören wollte, und allen anderen natürlich auch, erzählt hatte, dass er »lieva Fliesche fresse däd«, als ein Gotteshaus zu betreten, eines Sonntagmorgens mit meiner Mutter zur Kirche stiefelte und dem Pfarrer erklärte, eine Gabenbereitung ohne das Halleluja meiner Mutter sei nur eine Backoblate ohne Belag, was der zwar so nicht gelten lassen wollte, sich nach einer kurzen Hörprobe aber doch bereiterklärte, sie ein paar Lieder singen zu lassen.
»Ausgerechnet jetzt«, stöhnte meine Großmutter, als sie meinen Großvater am Telefon dem Helm von dem Essen erzählen hörte, das sie anlässlich des Debüts planten (er), drei Gänge natürlich, nein, was genau stünde noch nicht fest, aber sie würden schon was zaubern (meine Großmutter). Er lud die ganze Familie ein, sogar die andere Tante meiner Mutter, seine Schwester Ilse, deren Nummer ihm sonst ob des penetranten Optimismus, der ihr wie Pickel aus den Poren sprießte, immer wieder zu verlieren gelang.
Die Ilse war ein bisschen aus der Art geschlagen. Wäre da nicht das Grübchen
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