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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Stricker
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gewesen, das sich auch in ihr Kinn bohrte, man hätte nicht glauben mögen, dass sie zu den Schneiders gehörte. Immer heiter, immer verständnisvoll für alle und jeden. Sie glaubte fest daran, dass ihr keiner etwas Böses wollte, war also alleinstehend, dennoch ungebrochener  – »untätiger«  – Hoffnung, dass der liebe Gott, denn ja, natürlich glaubte sie auch an den, sie schon an den richtigen Platz im Leben stellen würde.
    Als mein Großvater ihr zwischen zwei wahnsinnig dringenden Terminen, wirklich, ticktack, erzählte, dass meine Mutter am folgenden Sonntag das Lobe den Herren »neu interpretiere«, freute sie sich so pappsüß, dass er erstmal ein paar Fräuleins zusammenscheißen musste, um sich wieder abzuregen.
    Am Morgen vor der Messe kamen sie schon eine Stunde früher, um Plätze freizuhalten. Die Arme leicht vorm Körper gespreizt, um den bei jeder Berührung knitternden Stoff  – »alles annere is jo nix!«  – zu schonen, saß mein Großvater in der vordersten Kirchenbank, daneben meine Großmutter, der vor lauter Panik, meine Mutter könne Panik kriegen, das Pillendöschen in der Hand zitterte. Drumherum Helm, Gundl, Max, ganz am Rand Ilse, ein bisschen außer Atem, weil sie alle paar Minuten wiederholen musste, dass bestimmt alles gut gehen würde.
    Nur meine Mutter schien völlig gelassen.
    »Ein echter Profi«, sagte mein Großvater, »keine Spur von Lampenfieber.«
    »Pscht«, sagte meine Großmutter.
    »Blödsinn!«, sagte meine Mutter. »Klar hatt ich Schiss!« Sie nahm die Brille ab, die sie seit Beginn der Krankheit wieder trug, weil ihr von den Kontaktlinsen die Augen brannten, und wischte mit dem Ärmel ihres Nachthemds daran herum. Ihre Oberlippe bog sich ein wenig nach oben und ließ wieder dieses neue Grinsen aufblitzen. »Mach dir mal keine Illusionen, die Oma steckt genauso in uns drin wie der Opa«, lachte sie und klopfte mir auf den Arm. »Als ich am Weihwasserbecken vorbei bin, dacht ich einen Moment, ich kipp um, so aufgeregt war ich.« Mehr als das Publikum habe sie jedoch das »Angst? In Kasan haben sie jeden, der ihnen zu langsam war, in ein Kellerloch zu den Ratten geworfen und so lange da hocken lassen, bis es angefangen hat zu stinken. Das nenn ich Angst« meines Großvaters gefürchtet.
    Sie schob die Bügel wieder über die Ohren. Die windschutzscheibendicken Gläser schillerten in allen Farben. »Glaub mir, da reißt du dich lieber zusammen.«
    Ohne sich einmal umzudrehen, war sie also auf die Empore gestiegen, hatte tief Luft geholt und dann einfach losgesungen, laut und klar und mit einer solchen Wucht, dass sich ihre Stimme fast überschlug von all der Kraft, die sie noch nicht zu bändigen wusste, als würde man einem Kugelstoßer einen Tennisball in die Hand drücken. Unten reckten sich die Hälse, aber meine Mutter sah nichts, sang einfach weiter bis zum letzten Ton und lief dann genauso schnurstracks zurück auf ihren Platz, während mein Großvater unten aufsprang und losapplaudierte.
    »Oskar«, zischte meine Großmutter, »doch nicht im Haus des Herren.«
    »Mach dir mal keine Sorgen«, sagte mein Großvater, »der Herrgott vergibt mir schon. Das ist sein Metier.« Nur mit Mühe ließ er sich dazu bewegen, sich wieder zu setzen und bis zum Ende auszuharren, »auch wenn der Rest der Vorstellung im Vergleich ganz schön abgestunken hat.«
    Als es endlich vorbei war, stellte er sich an den Ausgang und sammelte die Komplimente für meine Mutter ein, die ihm so gut gefielen, dass er ganz vergaß, sie weiterzugeben.
    »Oskar, wir müssen«, jammerte meine Großmutter, »die Gäste stehen doch jeden Moment vor der Tür.« Aber erst als auch der Pfarrer aus der Sakristei kam und »manchmal bedenkt der Herr eins seiner Schäfchen so großzügig mit Gaben, dass man nur in Ehrfurcht erstarren kann« sagte, war er bereit, sich zu verabschieden, nicht ohne selbigen zum Essen einzuladen, was meine Großmutter  – fehlendes Platzkärtchen, etwaige Lebensmittelallergien  – die erste Beruhigungstablette kostete, dann, als er dankend ablehnte, »sind wir ihm etwa nicht gut genug?«, die zweite.
    Bei der Ankunft zu Hause stand sie kurz vorm Kollaps. »Das Hühnchen krieg ich nie durch, bis die kommen«, schrie sie aus der Küche, und »Ach herrje, die Kerzen, geh schnell!«, »Nicht so schnell, du wirst doch wieder ganz rot!«, »Oskar, hol du doch bitte die Kerzen«, und dann, das schon nicht mehr rufend, sondern leise hinter den fast vollzählig im Esszimmer

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