Fünf Kopeken
Hände.
»Klar doch. Versagen«, antwortete er und tat nicht mal so, als sei das ein Scherz.
Meine Großmutter schüttete Sekt nach und sich über, zog sich um, zog wieder die alten Sachen an, weil sie nicht eitel erscheinen wollte, und rubbelte solange an dem Fleck herum, bis sie doch einen frischen Rock brauchte.
Mein Großvater erzählte zum 100. Mal die Geschichte, wie sein Mischa Sergewitsch mit den Wachen am Vorratslager Wodka gekippt hatte, während sie hinten die Kartoffelsäcke rausgeschleppt hatten. »Der Verwalter des Magazins war ein einäugiger Jude. Der Mischa hat sich einen abgelacht, wenn die Bücher nicht stimmten«, sagte er und machte das mit dem Lachen gleich mal vor. Dann schlug er auf den Tisch und hielt meine Mutter in die Luft. »Wer möchte noch mal unsere Sängerin hören?« Der Küchenschemel wurde geholt und meine Mutter lobte noch mal den Herrn, und dann den großen Gott, seine Stärke, seine Werke, vor aller Zeit, in Ewigkeit, bis die Ilse vor Rührung weinte.
»Das Mädel gehört ins Fernsehen«, schmatzte einer der Sanitärcousins. Er ließ den Blick über meine Mutter gleiten. »Vielleicht auch ins Radio!«
»Ihr müsst sie zu so einem Gesangswettbewerb schicken. Mit ein bisschen Glück wird sie genauso berühmt wie der Heintje und kann auch überall in der Welt rumreisen«, warf ein anderer ein.
»Nicht doch! Sie ist doch alles, was ich habe«, schrie meine Großmutter und schloss die Arme um den winzigen Körper, während sie mit Sorge feststellte, dass »alles« schon wieder weniger geworden war.
»Glück?«, schrie mein Großvater noch lauter. »Mit solchen Märchen kannst du deiner Großmutter kommen! Glück ist eine Erfindung von Faulpelzen, damit sie sich einreden können, das Schicksal sei schuld an ihrem Elend, und nicht sie selbst. Was der Mensch braucht, ist Fleiß und sonst gar nichts.«
»Gott wie schä!«, seufzte die Ilse, die endlich wieder zu Atem kam, »die Stimme eines Menschen ist doch wirklich sein zweites Gesicht.«
»So klingt das, wenn ein Kind unter Strom steht«, sagte mein Großvater spitz und fand doch noch ein 37. Bild auf seinem Film, um der Gundl seine Schadenfreude ins Gesicht zu blitzen. Woraufhin die beschloss, dass ihr Max jetzt auch mal was singen sollte. Was der absolut nicht konnte, nachdem Gundls Faust seine Finger unterm Tisch so zusammenquetschte, dass er fast aufschrie, aber doch versuchen wollte, seinerseits den Schemel bestieg und das Hänschenklein auch tatsächlich ein paar Töne in die weite Welt hinein trieb, bis ihn sowohl Text als auch Stimme im Stich ließen und er gar nicht wohlgemut in Tränen ausbrach, für was er zu Hause so den Po versohlt bekam, dass die Nachbarn den Derrick lauter drehen mussten.
So ganz verzieh der Max das meiner Mutter nie. Die ganze Schulzeit über sprach er kein Wort mit ihr. Erst als sie sich in Berlin wiedertrafen, er auf der Flucht vor dem Bund und seinen Eltern, sie vor dem leeren Zuhause, in dem sie einen Monat lang so getan hatte, als könne sie ohne ihre leben, nahm er sie ein paar Mal mit, so verloren schien sie in dieser Stadt, die so gar nicht zu ihr passte, in der alles, was man überall sonst auf der Welt wenigstens den Anstand zu verstecken gehabt hätte, Drogen, Dreck, Lärm, Laster, plötzlich etwas Gutes sein sollte, in der überhaupt alles gut war, oder nicht, oder scheiße, oder nicht, aber immer irgendwie okay, vor allem irgendwie, so wert- und schmerz- und alles frei, dass meine Mutter sich ganz schön anstrengen musste, ihr Leben kaputt zu kriegen.
Aber darin hatte sie ja wenigstens jede Menge Übung. Im sich Anstrengen meine ich, im sich Abmühen, sich Abstrampeln, Abrackern, so viel, dass sie gar nicht wusste, wie sie damit hätte aufhören sollen, wie das eigentlich geht, mal langsam machen . Und mein Großvater tat sein Möglichstes, dass sie es auch nicht lernte. Sobald sie eine ihrer Fähigkeiten so gut beherrschte, dass deren Ausübung nicht mehr totale Erschöpfung bedeutete, suchte er ihr sofort eine neue Herausforderung. Die Beste zu sein reichte nicht, es musste auch ihr Bestes sein, und der Weg dahin hatte weh zu tun. Ohne Fleiß kein Preis. Aber: Ein Preis ohne Fleiß war noch schlimmer. Was dann auch der Grund war, warum der Gesangslehrer wenige Wochen nach dem Auftritt einen Anruf bekam, dass es sich ausgeatmet habe: Das Singen fiel ihr einfach zu leicht.
»Wir können keine Zeit verschwenden für etwas, was am Ende nur ein Hobby bleiben muss«, sagte mein
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