Fünf Kopeken
sehen gewesen wäre. Sondern weil gar nichts zu sehen war. Keine Schlieren, kein Dreck, keine Graffitikürzel, nicht mal Müll. Die Bahnsteigkante war so weiß, wie sie in einer Stadt wie Berlin nur direkt nach dem Streichen ist, die Kiesel alle von dem gleichen Grau, als habe man sie eben im Baumarkt geholt. Dazwischen funkelten die Schienen wie zwei parallel verlaufende Bächlein.
»Sie müssen jetzt stark sein«, sagte Arno schwächlich.
Der Nachbar zog wieder die Lippen auseinander. Aber diesmal blieb meiner Mutter keine Zeit, die Grimasse lange zu betrachten, denn in dem Moment schüttelte er ganz plötzlich Arnos Hand ab und rannte los. Ohne sich umzusehen sprang er in den Graben, warf sich auf die Knie und begann zu buddeln.
»Vorsicht!«, rief Arno. Seine Arme schlackerten hin und her, während er sich am Grasstreifen entlangdrückte, den Ästelchen der Büsche am Wegrand auswich. »Was machen Sie denn da? Das ist doch gefährlich!« Wie ein Nichtschwimmer am Beckenrand lief er auf und ab, bückte sich, streckte die Hand nach unten.
Und meine Mutter? Blieb an der Kreuzung stehen. Sah den beiden nach. Aber wirklich hin sah sie nicht. Hörte Arno auf den Nachbarn einreden. Aber hin hörte sie nicht. Spürte nur, wie sich ihr der Kopf umdrehte, so sagte sie es, »und dann drehte sich mir der Kopf um«, als sei es kein aktiver, sondern ein passiver Vorgang, als habe eine unsichtbare Hand ihren Kopf gepackt und ihn gewaltsam herumgebogen.
»Jetzt seien Sie doch vernünftig. Das hat doch keinen Sinn!«
Ihr Blick strich über die Familie am Eck, fuhr weiter zu den beiden Frauen, die in der Sonne saßen.
»Lassen Sie mich!«, kreischte der Nachbar.
Meine Mutter sah, wie sich eine der beiden nach hinten lehnte und den letzten Tropfen aus ihrem Glas trank, schaute aufgeregt zurück zum Eingang, als erwarte sie, dass sofort ein Kellner käme und nachschenke.
»Was, wenn die Bahn kommt?«, schrie Arno, und: »Siehst du was?«
Meine Mutter machte einen Schritt auf die Bahnsteigkante zu, kniff die Augen zusammen. Aber das Einzige, was sie erkennen konnte, war ein Glaskasten, in dem wahrscheinlich die Speisekarte eingeschlossen war, ein Blumenkübel darunter, ein portugiesisches Fähnchen darin.
»Kommt was?«, schrie mein Vater noch mal, während er versuchte, den Nachbarn gewaltsam wegzureißen, auch wenn meine Mutter das nicht sah, sondern sich wohl eher mal wieder nachträglich dazudachte, denn um sich selbst von der Tür wegzureißen, fehlte ihr die Kraft. Oder die Schwäche. Das ist manchmal schwer zu unterscheiden.
»Nein«, rief sie, während sie unablässig auf den Vorhang starrte, der in der offenen Tür hing. Ihre Augen fuhren am Saum entlang, dessen Wellen sich ganz leicht bewegten, als würde jemand von hinten an den Stoff stoßen. Ihr Herz schlug so laut, als sei sie ein einziger, hohler Klangkörper, in dem das Pochen endlos widerhallt.
Im Vergleich dazu war das Fiepen so leise, dass sie es erst hörte, als es schon direkt neben ihr war. Vielleicht auch noch ein paar Meter entfernt. Aber doch so nah, dass der Panik keine Zeit blieb, den Umweg über ihren Kopf zu machen, sondern ihr sofort in die Glieder schoss. Ohne noch begriffen zu haben, was geschah, flog sie herum und rannte los, auf meinen Vater zu, schrie, vielleicht, schrie vielleicht auch nicht, aber warum denn nicht, also wahrscheinlich doch, schrie hoffentlich, auch wenn sie sich später nicht daran erinnern können würde. Nur dass Arno die Tram offenbar schon bemerkt hatte, das wusste sie noch, wie er auf den Gleisen gestanden hatte, mit ausgestrecktem Arm, die Hand geflext, als sei er der Schulwart.
Aber die Bahn fuhr trotzdem weiter, sei es, weil der Fahrer nicht aufpasste, sei es, weil er doch aufpasste und sich dachte, die beiden Idioten würden schon noch rechtzeitig abhauen – wozu der Nachbar jedoch keinerlei Anstalten machte. Die Hände tief in den Kieseln vergraben, ignorierte er meinen Vater, der ihm hinterhergesprungen war, buddelte immer weiter, bis Arno ihn endlich an den Schultern packte. In blinder Verzweiflung zerrte er den schlaffen Körper von den Schienen, stieß und schob und schubste ihn auf den Bahnsteig, bevor er sich, vielleicht nicht unbedingt actionfilmknapp, aber doch, sagen wir mal, zeitnah zum Vorbeifahren der jetzt zumindest bimmelnden Bahn, selbst nach oben hievte.
Als meine Mutter ankam, rollte er sich gerade vom Rücken auf den Bauch.
Sie fiel neben ihm auf den Boden, versuchte, ihm
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