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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Stricker
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Meine Mutter linst durch die Spitzenborte, drückt sich die Nase an der Scheibe platt, wie ein Kind vorm Spielwarenladen, während hinter ihr der Verkehr vorbeirauscht. Sie legt die Hand an den Fensterrahmen, zieht sie wieder weg, rennt zur Haltestelle zurück, und dann steht sie plötzlich doch im Eingang, zittrig erregt von dem Wissen, eine Dummheit zu begehen. Der Samtvorhang stößt sie in den Rücken. Sie greift nach den Mänteln an der Garderobe, hält sich an den Ärmeln fest, so wenig traut sie den Beinen, die es eben noch so eilig hatten, hierherzukommen, nur um jetzt unter ihr weg zu schmelzen, wie Schokolade, die zu lange in der Sonne gelegen hat. Ihre Augen hasten in den Raum voraus, über die Tische hinweg, um die Barhocker herum, zur Schwingtür, hinter der hin, her, hin weiße Fliesen aufblitzen, Töpfe, Geschirr, noch mal ein Topf, dann die Tür selbst und ein Schild darauf: » кухня «, liest meine Mutter, das heißt, in Wahrheit ergeben die fremden Buchstaben, wenn sie sich denn überhaupt die Mühe macht, sie zu einer Lautkette aufzufädeln, wohl noch gar nichts, höchstens vielleicht einen unverständlichen Brei, vergleichbar mit dem Geräusch, wenn jemand Schluckauf hat, »kükshr« oder »kikshr.« Erst in ein paar Stunden wird sie verstehen, dass dieses »Kuchnje!«, das Alex jedes Mal ruft, wenn es ihm in der Küche wieder zu lange dauert, eben jenes » кухня « ist, und versuchen, es genauso tief und fordernd wie er zu schreien, »Kuchnje! Dawai!«, wofür er sie eine halbe Sekunde lang fast so schön anlächeln wird wie seine Anna auf dem Foto.
    Noch aber ist meine Mutter so damit beschäftigt, sich auf den Beinen zu halten, dass sie eigentlich gar nichts versteht. Nicht die »Entschuldigung, könnten Sie vielleicht, würden Sie bitte ein wenig« hüstelnden Senioren, die die Handflächen aneinanderlegen und auf sie zuschieben, als seien sie Brustschwimmer und meine Mutter in ihrer Bahn. Nicht das Getuschel, während sie sie erwartungsvoll anschauen, sich endlich doch an ihr vorbeidrücken und die Kleiderbügel vom Haken ziehen. Nicht den Mann, der auf einmal mit wackelnden Hüften angetänzelt kommt, eine Serviette über dem Arm. Zweimal muss er »Wie viele?« fragen, bis sie endlich schwächlich den Zeigefinger in die Luft hebt, als habe sie das Sprechen verlernt.
    Der Mann macht ein Gesicht, als habe sie ihn gerade über den Tod einer nahen Verwandten informiert.
    »Gans allein?«, fragt er bestürzt. Er fährt sich durch die grauen Kringellöckchen, die ihm wie ein verblichener Heiligenschein um den Kopf stehen, schiebt meine Mutter kopfschüttelnd zu einem der Tische.
    »Nix mahe Sorghe, Schnuggibuudsi, jetz isch kummre umme dia«, sagt er und drückt ihr die Stuhlkante in die Kniekehlen.
    Er legt eine Speisekarte vor sie auf den Tisch und tätschelt ihren Arm, klappt, als sie selbst keinerlei Anstalten dazu macht, dann aber doch die erste Seite für sie auf, hält ihr die Karte vor die Nase, bis sie endlich zugreift und er zufrieden »bringhe dia vor die allhe andere Dinghe bisshe Wassa« rufend wieder davonwackelt.
    Meine Mutter starrt geradeaus, hält sich an dem dicken Ledereinband fest und er sich an ihr mit all dem Öl und Fett und was sonst noch alles darauf klebt. Die Worte unter der Klarsichthülle werden dick und wieder dünn, wie wenn der Optiker beim Sehtest an der Blende spielt.
    Sie drückt die Handballen auf die Schläfen, versucht ihre Augen durch den Fingertunnel nach vorne zu schießen. Aber statt die Vorspeisen zu studieren, huschen sie über den Rand hinweg und laufen einem der Kellner nach, folgen dem Arm, auf dem ein dampfender Teller schwankt, wagen nicht zu blinzeln, bis sich ihnen ein Gesicht zuwendet, das nicht das von Alex ist. Sie klettern über die Schulter meiner Mutter, zur Schwingtür, zur Empore, heften sich an eine neue schwarze Weste, dann an ein Anzughosenbein, springen von rechts nach links, bis sich ihnen wieder die Kringellöckchen in den Weg schieben.
    »Haben Sie gewählt?«, fragt der Mann, den ich der Einfachheit halber jetzt schon mal Schnuckiputzi nenne, auch wenn es noch etwas dauern wird, bis auch meine Mutter ihn so nennen wird, weil ihn auch sonst jeder so nennt, weil er jeden so nennt, Frauen, Kinder, Männer, sich selbst, mit lang gezogenem »U« am Ende und bis zur Unkenntlichkeit verweichlichten Plosiven, Schnuggibuuuuuuuuudsi!
    »Haben Sie gewählt?«, fragt also Schnuckiputzi und stellt eine Karaffe neben ihr ab, oder wohl

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