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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Stricker
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die Bauchdecke reichte die Vorschau auf die Rückschau schon aus.
    »Ist es hier?«, fragte Arno in das Fiepen der anfahrenden Tram hinein.
    Der Nachbar atmete schwer. »Ich glaub, weiter vorne.«
    »Na dann.« Arno lief los.
    Aber der Nachbar rührte sich nicht. Wie eine Schnecke, der man das Haus gestohlen hat, rollte er den Oberkörper nach vorne und zog den Kopf ein.
    Mein Vater machte kehrt, legte dem Nachbarn die Hand auf den Arm. Versuchte, ihn nach vorne zu ziehen.
    »Na kommen Sie«, sagte er, »Sie können doch nicht ewig die Augen vor der Realität verschließen«, aber der Nachbar schien es auf einen Versuch ankommen lassen zu wollen. Mit einer ungeahnten Sturheit starrte er zu Boden, wich dem Blick meines Vaters aus, der endlich meine Mutter herbeiwinkte. Zögerlich kam sie näher und griff nach dem anderen Arm des Nachbarn, half Arno, ihn über den Bahnsteig zu ziehen, den Grasstreifen entlang, bis mein Vater offenbar das Gefühl hatte, angekommen zu sein. Oder vielleicht auch einfach nur nicht mehr konnte.
    Stöhnend ging er vor dem Nachbarn in die Hocke und versuchte erneut Blickkontakt herzustellen.
    »Ich weiß, es ist hart«, sagte er und senkte den Kopf, bis der Nachbar endlich aufschaute.
    Sein Gesicht war aschfahl. Die Äuglein unter den zusammengezogenen Brauen hüpften nervös hin und her. Er kreuzte die Arme vor der Brust, stopfte die Fingerspitzen in die Achseln.
    »Und jetzt?«, sagte er endlich.
    Mein Vater stand auf und knackte mit den Knien. »Das liegt ganz bei Ihnen.«
    Der Nachbar sah ihn an wie ein Kind, das sich im Supermarkt verlaufen hat.
    »Lassen Sie sich Zeit«, sagte mein Vater. »Wenn Sie so weit sind.« Fünf Minuten später: »Keine Eile.« Noch etwas später: »Sind wir denn an der richtigen Stelle?«
    Der Nachbar zuckte die Schultern.
    »Was hat denn Ihre Frau gesagt?«, fragte Arno.
    »Nur, dass es in der Nähe der Kreuzung passiert ist.« Der Nachbar zog das Armkreuz noch weiter nach oben. Seine Ellenbogen waren weiß, als habe er sie in Mehl gestippt. »Ich hab gedacht, wenn ich da bin, werd ich’s schon sehen. Aber es sieht ja alles aus wie immer.«
    Mein Vater legte ihm eine Hand auf den Rücken und streichelte langsam auf und ab. »Waren Sie denn vorher schon mal da?«
    Der Nachbar nickte. »Das Arbeitsamt ist gleich da hinten.« Er stieß mit den Zehenspitzen einen Erdbrocken hin und her, schaute zur Ampel, sodass meine Mutter endlich einen Vorwand hatte, es auch zu tun. Als habe man zwei ausgehungerte Hunde von der Leine gelassen, rannten ihre Augen zum Restaurant weiter, vor dem tatsächlich schon ein paar Gäste saßen, an den Tischen vorbei, zum Fenster, schlichen um die Tür herum, in der Hoffnung, oder besser Sorge, oder doch besser Hoffnung, dass  …
    »Und meine Frau ist manchmal mit dem Pimpf auf’n Spielplatz dahinten gegangen.«
    Meine Mutter fuhr herum. Aus ihrer Lunge entwich ein hoher Ton, wie wenn man die Zehen in zu heißes Badewasser steckt. Aber keiner der beiden beachtete sie.
    »Es muss doch irgendwas übrig geblieben sein!«, sagte der Nachbar stattdessen.
    Mein Vater senkte den Kopf. »Wahrscheinlich hat die Stadtreinigung alles weggemacht.«
    »So schnell?«, fragte der Nachbar, mehr überrascht als verletzt. Er schirmte die Augen mit der Hand ab, rieb sich mit dem Daumen die Schläfe, als brüte er über einer komplizierten Aufgabe. »Ist für die wahrscheinlich nicht das erste Mal, was?«
    »Wahrscheinlich«, flüsterte Arno.
    Der Nachbar nickte. »Es werden sicher dauernd Kinder überfahren, nur fällt es einem nicht auf, solange es nicht das eigene ist.«
    Mein Vater schluckte. Vor lauter Verlegenheit kam er mit der Streichrichtung durcheinander. Seine Hand rutschte ungelenk auf dem Nachbarrücken herum, während der, plötzlich richtig redselig, weitersprach.
    »Da kann man natürlich nicht jedes Mal einen Volksaufstand machen. Was mir das Leben zerstört hat, ist von außen betrachtet wahrscheinlich eine Kleinigkeit, ein Fehltritt wie tausend andere auch. War halt mal wieder ein Kind zu blöd, sich umzukucken, bevor es losgerannt ist. Personenschaden nennt man das, oder?«
    Er ließ den Blick über die Schienen schweifen, zupfte an seinem Pullover.
    »Sieht doch aus wie immer, oder?«, sagte er endlich und schaute, sicher aus purem Zufall, zu meiner Mutter, die erschrocken nickte.
    Aber tatsächlich war selbst das eine Lüge. In Wahrheit waren die Zeichen des Unfalls deutlich erkennbar. Nicht, weil auf den Gleisen irgendetwas zu

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