Fünf Kopeken
aufzuhelfen.
»Du solltest doch Bescheid sagen!«, schrie er und ließ die ausgestreckte Hand meiner Mutter unangetastet in der Luft hängen. Mit einem Satz sprang er auf die Füße und wischte sich den Dreck von den Knien. Sein Gesicht war klatschnass.
»Tschuldigung. Die Sonne«, stammelte meine Mutter und zeigte nach oben, für den Fall, dass mein Vater vergessen hatte, wo sich die Sonne befand, »es hat so geblendet.«
»Was sollte denn das?«, brüllte er noch lauter, jetzt offenbar den Nachbarn meinend, »wollen Sie, dass es noch einen Toten gibt?«
»Tut mir leid«, murmelte der.
»Was wollten Sie denn da überhaupt?«
»Ich weiß auch nicht«, nuschelte der Nachbar. Er rieb sich über den Kopf, presste die Lippen so fest aufeinander, dass die Haut drumherum weiß wurde.
»Ich dachte, es muss doch noch was von ihm da sein«, sagte er endlich. Eine Träne lief ihm übers Kinn, während er sich die weißen Ellenbogen rieb.
Mein Vater holte tief Luft. »Ich weiß ja«, sagte er und drückte das zitternde Bündel erneut an sich.
»Warum hat er sich denn nicht umgesehen? Nur weil man Angst hat, kann man doch nicht einfach so losrennen«, wimmerte es an seiner Brust.
»Er war doch noch ein Kind«, sagte mein Vater sanft.
Und was ist dann meine Ausrede?, dachte meine Mutter, sagte es dann auch, zu mir, ein bitteres Lachen im Hals, so herausfordernd, dass ich einen Moment lang fast versucht war, ihr zu antworten. Aber ich wusste, dass sie mich sowieso hätte abblitzen lassen. Dass sie nicht verstanden hätte, dass die Erklärung für ihr Verhalten genau dieselbe war, nur dass es in ihrem Fall eben nicht die Regeln des Verkehrs, sondern die des Herzens waren, die sie noch nicht verinnerlicht hatte, wenn sie sie denn überhaupt kannte.
Das Weinen des Nachbarn ließ langsam nach. Seine Arme fielen einer nach dem anderen zur Seite, dann zog er auch den Kopf von der Schulter meines Vaters. »Kann ich jetzt nach Hause?«, fragte er.
Arno zupfte ihm den Nickipullover nach unten, der so weit hochgerutscht war, dass man den nackten Bauch sehen konnte, und mein Mutter dachte, dass mein Vater sicher ein guter Vater sein würde.
»Natürlich«, antwortete er und wischte ihm die Tränen von den Wangen. Er drehte sich nach rechts und links, legte die Stirn in Falten. »Es sei denn, Sie wollen sich nach dem Schreck erstmal kurz hinsetzen. Wir können auch irgendwo einen Schluck trinken, bis es Ihnen wieder besser geht.«
Diesmal war der Schlag gegen die Bauchdecke so heftig, dass meine Mutter sich vor Schmerz zusammenkrümmte.
Aber der Nachbar schüttelte den Kopf. »Nein, ich will nach Hause«, sagte er und sah meinen Vater fast bettelnd an.
»Natürlich. Wie Sie wollen«, sagte der. Er rieb sich die Handflächen aneinander ab, hakte sich bei dem Nachbarn unter und setzte sich wieder langsam in Bewegung, meine Mutter, die, jetzt noch dienstfertiger als zuvor, die andere Seite ergriff, neben ihm her, wie zwei Ackergäule, die einen Lastzug schleppen.
Sie zerrten ihn zurück zum Bahnsteig, halfen ihm in die nächste Tram, wollten sich verabschieden. Und fuhren dann doch mit ihm zurück. An der Haltestelle meiner Großeltern stiegen sie aus, wandten sich zum Gehen, gingen doch noch nicht, weil der Nachbar es augenscheinlich kaum allein über die Straße schaffte, und brachten ihn lieber auch noch zum Haus, und dann auch noch zur Haustür, und dann auch noch die Treppe hinauf, wollten wieder gehen, und kehrten wieder um, weil der Nachbar sie mit dünner Stimme zurückrief.
»Ja?«, sagte mein Vater und stieg die Stufen erneut hinauf, während meine Mutter sich fragte, wie lange sie dieses Hin und Her noch durchhalten würde.
Der Nachbar stand in der Tür, einen Fuß auf der Schwelle, den anderen in der Wohnung, und klappte den Mund auf und zu wie ein Fisch. Sein Pullover war schon wieder hochgerutscht, aber diesmal zog er ihn selbst nach unten, so weit, dass über dem Halsausschnitt ein paar lange, hellbraune Haare zum Vorschein kamen. »Ich begreife es noch immer nicht«, sagte er.
»Das braucht Zeit«, antwortete Arno. Er kam ganz nach oben und legte die Hand auf seine Schulter, als könne er nicht mit ihm reden, ohne ihn irgendwo anzufassen.
Der Nachbar ließ das Bündchen los. Der Pulli schnalzte zurück. »Was, wenn ich es gar nicht begreifen will?« Er blickte zwischen meinen Eltern hindurch ins Treppenhaus. Dann drehte er sich um und schloss die Tür.
13. Kapitel
Hinter den Gardinen funkeln Lichtpunkte.
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