Fünf Kopeken
und sich vorgenommen, den Begriff auf jede nur erdenkliche Weise darzustellen, strahlte er und seufzte er und summte er. Warf den Kopf in den Nacken, um die Vögel zu betrachten. Ließ ihn wieder fallen, um meine Mutter zu betrachten, mit diesem irgendwie wehleidigweinerlichen Blick, der wohl für Verliebtheit stand, auch wenn er damit eher so aussah, als habe man eine Tonbüste seines Gesichts angefertigt und sie kurz vorm Trocknen fallen lassen. Seine Augen rutschten schräg auf die Nase zu, die sich lang nach unten zog, die Lider hingen schräg über die Iris, der Mund versank im Kinn. Und dabei redete er so beharrlich über Nebensächlichkeiten, dass kein Zweifel bestand, dass er nur an eine einzige Sache dachte, die Hauptsache überhaupt, jetzt, für immer, in guten wie in schlechten Tagen: die Liebe. So aufgekratzt von dem, was da gerade passiert war, dass ihn die Frage, wie das da gerade eigentlich passiert war, nicht wirklich kratzte, begann er fast zu hüpfen, zog ihren Arm nach oben, küsste ihre, beziehungsweise zwangsläufig natürlich auch seine Finger.
»Alles klar?«, fragte er und meinte: Jetzt ist alles klar!
»Klar«, sagte meine Mutter und meinte eigentlich dasselbe.
Jetzt ist es wenigstens entschieden, dachte sie, wusste doch eh jeder, dass es am Ende so ausgehen würde, warum also das Unvermeidliche hinauszögern. So brauchte sie sich wenigstens keine Gedanken mehr zu machen.
Aber ihr Schädel begann dennoch wie verrückt zu hämmern. Ihre Gedärme bogen sich auseinander, ihr Nabel brannte vor Schmerz, »als würde ein Baby treten«, wie sie sagte, obwohl sie zu dem Zeitpunkt, von dem hier die Rede ist, natürlich noch gar nicht wusste, wie sich so was eigentlich anfühlt. Aber sie bestand darauf, dass das die Vorstellung gewesen sei, die sie im Kopf hatte, die, dass ein Leben in ihr heranwachse, dass da etwas aus ihr herausdränge – ein Bild, das für eine wie meine Mutter eigentlich ein bisschen arg von Symbolik triefte. Aber was eine wie meine Mutter bedeutete, war da ja auch schon lange nicht mehr klar.
Das noch unfertige Leben in ihr trat also um sich, versuchte nach besten Kräften, sich bemerkbar zu machen. Und meine Mutter versuchte nach noch besseren Kräften, es nicht zu bemerken. Starrte auf den Gehweg, der wirklich wahnsinnig hell war. Auf das neue Mode-Schneider-Schild, das mein Großvater gerade an der Kreuzung hatte anbringen lassen. Auf den Spatz an der Ampel.
»Wahnsinn, wie hell es ist«, sagte mein Vater, und »Ach, das neue Schild ist ja schon da«, »Schau mal, ein Spatz«, immer wieder »Was für ein Wetter!«, »Herrlich!«, »Ahh« und dann plötzlich »Alles klar?«, womit er diesmal tatsächlich »Alles klar?« meinte. Sein Lächeln wurde zu einem Strich, während er mit sorgenvollem Gesicht auf die Hand meiner Mutter schaute, die sich unbemerkt auf ihren Bauch geschlichen hatte.
»Klar«, antwortete sie und meinte »verdammt«.
»Ich glaub, die Knödel sind mir nicht so bekommen«, sagte sie.
Aus dem sorgenvollen Gesicht meines Vaters wurde ein mitleidiges Gesicht. »Du Arme«, sagte er und schob seine Hand ebenfalls auf ihren Bauch, was das Gehen nicht eben leichter machte. Seltsam ineinander verdreht torkelten sie den Bürgersteig entlang, waren nur noch ein paar Meter von der Haltestelle entfernt, als sie den gebeugten Rücken vor sich sahen.
»Ist das nicht der Nachbar?«, flüsterte mein Vater.
Meine Mutter nickte, spürte, wie ihr wieder schwindelig wurde. Sie schob meinen Vater zur Seite, wollte so schnell und so unauffällig wie möglich vorbei. Aber unglücklicherweise stellte sich ihnen genau in diesem Moment ein Gerüst in den Weg, »Typisch Berlin! Ich hasse diese Stadt « /»Nicht so sehr wie ich« – das aber erst später auf dem Nachhauseweg und seitens meiner Mutter auch nur, weil sie irgendetwas sagen musste, um den Lärm in ihrem Kopf zu übertönen. Jetzt versuchte sie erstmal gar nichts zu sagen, streckte nur den Arm aus. Aber statt unter der Plane hindurchzugehen, machte der Nachbar die gleiche Geste, »nein, Sie zuerst « /»Bitte! « / »nicht doch«, bis endlich keiner von ihnen mehr so tun konnte, als habe er den andern nicht erkannt. Zuerst nickte der Nachbar zum Gruß, dann formte auch meine Mutter ein tonloses »Tag«. Aber es war mein Vater, der sich endlich ein Herz fasste und »unser herzlichstes Beileid« flüsterte.
»Ah, haben Sie’s also gehört?« Der Nachbar spielte sich am Augenwinkel herum. Seine Stirn begann an
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