Fünf Kopeken
allen möglichen Stellen zu zucken, dann schossen ihm mit einem Mal die Tränen über die Wangen. Die Hände zu Fäusten geballt, rieb er sich die Augen, zog die Nase hoch, fuhr sich immer wieder mit dem Ärmel übers Gesicht, bis Arno meiner Mutter die Handtasche vom Arm nahm und ein Tempotaschentuch herauszog.
»Hier«, sagte er und hielt ihm das weiße Viereck hin. Faltete es auseinander. Drückte es ihm endlich selbst zwischen die Finger.
»Jeden Morgen nach dem Aufstehen lauf ich in sein Zimmer und suche ihn, bis mir wieder einfällt, dass er nicht mehr ist«, rief der Nachbar. »Ich kann das alles nicht begreifen.«
Mein Vater legte ihm die Hand auf die Schulter, was der Nachbar nun offensichtlich als Umarmung deutete. Schniefend ließ er sich nach vorne fallen, drückte sein nasses Gesicht an Arnos Hemd, während das Taschentuch weiterhin ungenutzt nach unten hing.
»Es ist nur …«, wimmerte der Nachbar, begnügte sich dann aber doch mit einem leichten Heben der Hand, ob jetzt um abzuwinken oder um sich zu verabschieden, war nicht ganz klar, aber auch nicht wirklich wichtig, denn meine Eltern mussten ihm ja sowieso folgen, erst unter dem Gerüst hindurch, dann, als der Nachbar seinerseits den Weg zur Haltestelle einschlug, auch dahin, auf den Bahnsteig, zum Wartehäuschen, wo sie, irgendwie zusammen und irgendwie auch nicht, zum Stehen kamen.
Mein Vater nahm wieder die Hand meiner Mutter, lächelte dem Nachbarn betreten zu, woraufhin der sich wohl ebenfalls zu einem Lächeln genötigt fühlte, das jedoch arg aus der Form geriet, »ungefähr so«, wie meine Mutter sagte und dabei etwas machte, was man heute wohl ein duckface nennen würde. Ihre Unterlippe bog sich so weit nach unten, dass das Zahnfleisch zu sehen war, während sie die Oberlippe fast über die Nase stülpte. Aber allmählich ärgerten mich diese Spott-Wut-Hohn-Haken, die sie jedes Mal schlug, wenn sie sich einem gefährlichen Punkt in der Geschichte näherte, nicht mal mehr, schienen mir sogar fast hilfreich, wie das Warnpiepen im Auto, das verhindert, dass man beim Einparken die Stoßstange des Hintermanns rammt. Ich ließ sie sich also weiter über den Nachbarn lustig machen, ihn neben meinem Vater und ihr in die Tram schleichen, sich auf die gegenüberliegende Bank setzen und wieder die Nase hochziehen. Ließ sie mir mit böser Lust an seiner Hilflosigkeit, die in Wahrheit doch nur ihre eigene war, vorführen, wie sein Gesicht erneut loszuckte, wie er auf den Fahrplan starrte, wieder zu weinen begann, bis Arno sich endlich neben ihn setzte und wieder den Arm um ihn legte.
»Ich weiß nicht, wie ich das schaffen soll«, heulte der Nachbar.
»Natürlich schaffen Sie das«, sagte mein Vater, »Sie dürfen nicht so streng zu sich sein. So was braucht eben Zeit.«
Der Nachbar schüttelte den Kopf. »Nein , ich meine«, er drückte die Hand auf seine Brust, »ich meine, mir das anzusehen.«
»Was ansehen?«
»Das …, da wo er, …«, der Nachbar rang nach Luft. »Die Unfallstelle, ich dachte, wenn ich mir ansehe, wo es passiert ist, kann ich es vielleicht auch endlich glauben. Aber jetzt, jetzt weiß ich nicht … « Sein Atem raste ihm so schnell davon, dass zum Sprechen nichts mehr übrig blieb.
Arno beugte sich nach unten und legte dem Nachbarn auch die zweite Hand auf die Schulter. »Sollen wir vielleicht mitkommen?«
Das Leben trat so plötzlich wieder aus, dass meine Mutter richtig zusammenzuckte.
Der Nachbar wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht, dann nickte er langsam.
»Gut«, sagte mein Vater bestimmt.
Der Nachbar nickte noch mehr. »Die nächste«, sagte er und zeigte zur Tür, und, als habe er auf einmal das Gefühl sich erklären zu müssen, »ich weiß ja auch nicht, ob das hilft, aber die Psychologin hat gesagt, es ist wichtig, den Verlust zu realisieren.«
» Es realisieren !«, schnaubte meine Mutter in ihrem Krankenbett und drehte, dankbar für die schöne Vorlage, den Hass voll auf. »Wenn ich so was schon höre! Als würde das irgendeine Rolle spielen! Der Schmerz ist ja doch derselbe, ganz egal ob der, um den man trauert, jetzt tot ist oder einfach nicht mehr wiederkommt!«, rief sie. Und schien im nächsten Moment so erschrocken über ihre eigenen Worte, dass sie das Thema sofort wieder fallen ließ und hinter meinem Vater und dem Nachbarn ausstieg.
Sie traten auf den Bahnsteig, an den meine Mutter ja eigentlich noch gar keine eigene Erinnerung haben konnte. Aber für einen weiteren Schlag gegen
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